Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
in den Sitz zurückfallen, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und schielte zu ihm hinüber.
»Hey, Koschny.«
»Was?«, kam es gereizt zurück.
» Jetzt sind wir quitt!«
Dann schloss Sven die Augen und schlief mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen ein.
22
E igentlich mochte Sven die Sonne. An klaren Tagen ließ sie die Welt freundlicher und farbenprächtiger erscheinen. Tage, die eigentlich viel zu selten waren. Doch als er die müden Lider aufschlug und grelle Lichtstrahlen in seinen Augen explodierten, wünschte er sich sehnlichst, der Feuerball am Himmel wäre für immer erloschen. Nur langsam kam er zu sich, bewegte sich und bereute es sofort. Ein feuriges Pochen durchzog seinen rechten Arm bis zu den Knöcheln der blau geschwollenen Finger hinunter. Seine Kleider klebten an seiner Haut, die sich anfühlte, als hätte er in Schmierseife gebadet.
Hatte er etwa in seinen Klamotten geschlafen?
Natürlich , fing sein Verstand behutsam an zu arbeiten. So wie du dich fühlst, kannst du froh sein, dass du nicht unter einer Brücke aufgewacht bist.
Aber wie war er überhaupt in sein Bett gekommen?
Das würde er später klären. Ganz langsam schob er sich bis zur Bettkante und setzte sich vorsichtig auf. Sein Kreislauf stürzte ab wie ein reißender Sturzbach und erzeugte ein eigenartiges Brummen in seinen Gliedern. Hustend versuchte er, den widerlichen Geschmack im Rachen loszuwerden. Seine Lunge hörte sich an wie splitternde Glasfaser. Wie kann ein Alkoholiker das nur jeden Morgen ertragen? , fragte er sich. Zögernd kam die Erinnerung an den letzten Abend zurück, und er schüttelte sich vor Ekel. Behutsam stand er auf und betrachtete sich in dem großen Spiegel des Schlafzimmerschrankes. Er hatte Augen wie Bremslichter, und die Falten des Kopfkissens hatten Kerben in sein mehlweißes Gesicht gedrückt. Seine wild zerzausten Haare hatten Ähnlichkeit mit denen des Punkers, dem er und Dennis im Bistro gegenübergesessen hatten.
Dennis!
Er war tot.
Immerhin hatten die Nachwirkungen des Alkohols es ihn für einige Minuten vergessen lassen.
Unbeholfen öffnete er die Tür des Schlafzimmers und stakste durch den Flur. Dann machte er aus reiner Gewohnheit einen Abstecher ins viel zu helle Treppenhaus und fingerte den viel zu kleinen Schlüssel in das viel zu kleine Schloss seines Briefkastens. Er zog drei Umschläge und die Tageszeitung daraus hervor und ging zurück in die Wohnung. Der Versuch, die Absender der Briefe zu entziffern, endete damit, dass ihm schlecht wurde und er die Post samt Zeitung auf der Kommode neben der Tür deponierte. Dann setzte er zielstrebig seinen Weg in Richtung Badezimmer fort. Noch nie hatte er sich so nach einer Dusche gesehnt, nach dem Gefühl von warmem Wasser auf seiner Haut. Doch seine Hand verharrte regungslos auf dem Wasserhahn, als er durch das Dröhnen in seinen Ohren hindurch ein leises Pfeifen vernahm. Anfangs hielt er es für eine alkoholbedingte Sinnestäuschung. Erst beim zweiten Hinhören erkannte er, dass es eine reichlich schiefe Version von Armstrongs What a Wonderful World war, zu regelmäßig, zu klar, um von seinem benebelten Gehirn erzeugt zu werden. Leise schlich er zurück in den Flur und versuchte das Geräusch zu lokalisieren, das von einem brutzelnden Zischen begleitet wurde. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren, als er ins Wohnzimmer stolperte und einen Mann in seiner Küche erblickte, der mit dem Rücken zu ihm am Herd stand. Das hellblaue Polohemd des Mannes hatte die Größe eines zu kurz geratenen Kaftans.
»Koschny?«
Das Pfeifen verstummte, und Koschny drehte sich zu ihm um. »Mein Gott, es lebt!«, stellte er fest, nachdem er Sven ausgiebig gemustert hatte.
»Was … Was machen Sie hier?«, fragte Sven verwirrt und betrachtete die Bratpfanne auf seinem Herd, neben dem sich das Geschirr in drei Reihen stapelte.
»Also, der Volksmund bezeichnet diesen Vorgang üblicherweise als Kochen«, antwortete der Reporter. »Etwas, das in dieser Küche offensichtlich nur selten praktiziert wird; das einzig Essbare in diesem Chaos sind eine Packung Eier und eine Dose Pilze.«
»Nein, ich meine, was machen Sie in meiner Wohnung?«
»Na ja, nachdem Sie gestern Abend mein Auto vollgekotzt hatten, habe ich mich dazu durchgerungen, die Nacht auf Ihrer Couch zu verbringen, was weiß Gott kein Vergnügen war.« Er massierte seinen Nacken.
»Haben Sie mich nach Hause gebracht?«, fragte Sven entgeistert.
»Ja, und
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