Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Langeweile noch mehr Unsinn anstellen.«
»Gut, dann lassen Sie mich weiter nach Hofer suchen.«
»Vergessen Sie’s! Die Fahndung wurde vor zwei Stunden eingestellt. Ich habe gerade mit Rathke darüber gesprochen.«
»Was hat der damit zu tun?«, fragte Sven.
»Er hat die Ermittlungen geleitet, während Sie beurlaubt waren.«
»Rathke?«
»Ja, was ist so verwunderlich daran?«
Sven zuckte die Achseln. »Vielleicht, dass er nicht im Geringsten mit dem Fall vertraut ist.«
»Ich weiß«, entgegnete Rößner kalt, »dass Rathke ziemlich penetrant sein kann und dass Sie beide sich nicht gut verstehen, aber er ist in erster Linie Polizist, und er gehört zu unserer Abteilung. Deshalb sollten Sie und er sich endlich zusammenraufen.«
»Weshalb wurde die Fahndung abgebrochen?«
»Anweisung von oben.«
»Wissen die etwas über den Fall, was wir nicht wissen?«
»Es gibt keinen Fall mehr«, sagte Rößner. »Die Sache ist offiziell so gut wie abgeschlossen.«
Sven sah ihn mit großen Augen an. »Könnten Sie das noch mal wiederholen? Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe.«
Rößner kam ein paar Schritte um den Tisch herum und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Heute Morgen gegen zehn Uhr«, berichtete er, »bekamen die Kollegen einen anonymen Hinweis zu dem Mord an Erik Jensen. Der Anrufer hat behauptet, es ginge dabei um illegalen Drogenhandel, und hat den Kollegen eine Adresse genannt, wo Beweise zu finden wären. Dann hat er aufgelegt. Aufgrund der detaillierten Angaben des Anrufers wurde beschlossen, die Adresse zu überprüfen. Die betreffende Person war zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend, also wurde der Hausmeister gebeten, die Wohnung zu öffnen. Und tatsächlich wurde dort eine Sporttasche mit fast einem Kilogramm Kokain und diversen Aufputschmitteln gefunden, außerdem ein Schnellfeuergewehr und zwei randvolle Magazine. An der Waffe wurden Rückstände von Klebeband gefunden, vermutlich dieselben, die Sie in Ihrem Bericht erwähnen.«
Sven lauschte Rößners Worten wie ein Ingenieur, dessen mühsam erstellte Konstruktion für den Rohbau eines Gebäudes plötzlich in sich zusammenfällt wie ein Kartenhaus. Aber je länger er zuhörte, desto größer wurde sein Misstrauen. Auf einmal war sein Spürsinn wieder da, dem er in der letzten Zeit nicht mehr vertraut hatte.
»Fingerabdrücke?«, fragte er skeptisch.
»Nein.«
»Klingt nicht sehr wahrscheinlich. Wo ist der Verdächtige jetzt?«
»Er wurde kurz darauf verhaftet und vor etwa zwanzig Minuten zum Verhör hierhergebracht. Eigentlich wollte ich mich gerade auf den Weg zu ihm machen.«
»Und wer ist der Kerl?«
»Ein gewisser Thomas Milenz.«
24
M ilenz saß in dem kleinen Verhörraum und tippte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte. Das eintönige Tacken seiner Fingernägel wirkte seltsam entspannend auf ihn. Sonst gab es nichts, was ihn hätte ablenken können. Keine Bilder. Keine Muster. Keine Stimme, die ihm sagte, dass das alles nur ein bedauerlicher Irrtum sei. Nur kahle Wände, deren klaustrophobische Enge das Geräusch verstärkte.
Je länger er sich auf dieses Geräusch konzentrierte, desto mehr kam es ihm vor wie der Countdown zu seiner Hinrichtung. Dieses endlose Warten. Erst auf der Wache und nun hier. Vergeblich durchforstete er sein Gewissen nach einem Anhaltspunkt, der ihm seine Situation erläutern konnte. Nach jemandem, den er verärgert haben könnte und der sich nun auf diese makabre Weise an ihm rächen wollte. Doch ihm fiel niemand ein, der einen Grund dafür haben könnte, sein Leben zu zerstören. Ein Leben, dessen Fundament sich noch vor wenigen Stunden aus Pflichterfüllung und dem Begleichen von Rechnungen zusammengesetzt hatte – aus Mietverträgen und Gehaltsschecks. Jener unbescholtenen Daseinsgrundlage, die man paradoxerweise als Freiheit bezeichnete. Wäre er sich eines Vergehens bewusst gewesen, er hätte es sofort gestanden, nur um diesem Vakuum der Ungewissheit zu entkommen. Es musste eine Erklärung für all das geben. Schließlich hatte er nichts verbrochen. Jedenfalls nichts, was ein Abführen in Handschellen gerechtfertigt hätte, also hatte er auch nichts zu befürchten. Andererseits hatte man bei ihm ein Päckchen mit Kokain entdeckt, von dessen Existenz er bis vor wenigen Stunden nichts gewusst hatte.
Cool bleiben. Sich nur keine Blöße geben. Es würde sich schon alles regeln. Ja, gleich würde die Tür aufgehen und sich jemand bei ihm
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