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Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Titel: Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Offenbarungen. Etwas Liebenswürdiges ging von ihm aus. Die Aura des Individualismus und der Unabhängigkeit, die ihn umgab, machte ihn zu einem der wenigen Menschen, die Sven auf Anhieb mochte. Doch er wusste, dass Rößners Vorgehen das übliche Verfahren war. Wer hier saß, tat es in den meisten Fällen nicht ohne Grund. Er selbst hatte oft genug Wildfremde auf die gleiche Weise attackiert, hatte mit allen Mitteln versucht, sie an ihrem wunden Punkt zu treffen, bis sie sich selbst in die Enge trieben. Und das erreichte man in der Regel nicht durch Freundlichkeit.
    »Darf ich rauchen?«, fragte Milenz.
    Wortlos stand Rößner auf und verließ das Zimmer. Gleich darauf kam er mit einem Aschenbecher zurück, den er vor Milenz auf den Tisch stellte. Seine Hand verharrte einige Sekunden auf dem gläsernen Rand, als fordere sie eine Gegenleistung für dieses Entgegenkommen.
    Milenz zerrte eine zerknitterte Packung aus der Innentasche seiner Wildlederjacke, die über der Stuhllehne hing. Er fischte einen Klumpen Tabak daraus hervor, dessen dunkle Fasern an ausgerissene Insektenbeine erinnerten. Seine nervösen Finger ließen die bei diesem Ritual übliche Geschicklichkeit vermissen, und das hauchdünne Papierblättchen riss ein. Wütend warf er das Resultat in den Aschenbecher. »Mist, verdammter!«
    Sven trat vor und setzte sich auf die Tischkante. »Sie haben vorhin eine Krankheit auf Ihrer Station erwähnt«, schaltete er sich erstmals in die Befragung ein. »Was für eine Krankheit war das?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Na ja, was für Beschwerden haben die Betroffenen und so weiter?«
    »Ein paar klagen über Schüttelfrost, Muskel- und Gelenkschmerzen, wie bei einem grippalen Infekt«, berichtete Milenz verstört.
    »Ziemlich ungewöhnlich für diese Jahreszeit, finden Sie nicht?«
    »Dachte ich zuerst auch, aber Pille hat gesagt, das wäre normal.«
    »Wer?«, wollte Rößner wissen.
    »Dr. Krämer, der Stationsarzt, der sich letzte Woche das Leben genommen hat«, klärte Sven ihn auf.
    »Genau«, bestätigte Milenz. »Er hat gesagt, das sei nichts Ungewöhnliches bei unheilbar Kranken. Ein angegriffenes Immunsystem würde anfälliger auf neue Erreger reagieren und daher auch leichter erkranken. Auch wegen der fehlenden Bewegung.«
    »So wie bei Frau Marek?«
    »Genau. Wir machen zwar regelmäßig Übungen mit den Patienten, die ans Bett gefesselt sind, aber Muskeln und Gelenke bauen auf Dauer ab, dadurch sind Schmerzen vorprogrammiert. Daher hat sich das alles ganz logisch angehört, obwohl ich noch nie erlebt habe, dass diese Symptome so konzentriert auftreten. Aber zumindest erklärte es, warum nur unsere Station davon betroffen war und niemand sonst krank geworden ist.«
    Er sprach jetzt wesentlich befreiter, die Worte kamen plötzlich wie von selbst. Es war leichter, über etwas zu reden, das einen nicht direkt betraf und für das man keine Rechenschaft ablegen musste.
    »Dann handelt es sich also nicht um einen Virus, wie Sie meinem Kollegen erzählt haben?«, fragte Sven.
    »Nein, laut Krämer nicht.«
    »Wann hat Krämer mit Ihnen darüber gesprochen?«
    »Am Tag nach Frau Mareks Tod. Ich war ziemlich verunsichert und wollte natürlich wissen, was es mit diesen Erkrankungen auf sich hatte. Ich versuche, den alten Leuten ihre letzten Tage so erträglich wie möglich zu gestalten, aber das heißt nicht, dass ich bereit bin, ihr Schicksal zu teilen. Also habe ich ihn zu Hause angerufen.«
    »Hat er sonst noch etwas zu Ihnen gesagt?«
    »Nein … doch, warten Sie«, korrigierte er sich. »Er hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen und dass das Ganze bald vorbei wäre.«
    »Und am Tag darauf hat er sich das Leben genommen«, meinte Sven. »Haben Sie eine Ahnung, weshalb?«
    »Woher soll ich das wissen?«, wehrte Milenz die Frage ab. »Vermutlich hatte er private Probleme, mit denen er nicht klargekommen ist. Weshalb sollte jemand sonst so etwas tun?«
    »Anscheinend hat er sich wegen irgendetwas schuldig gefühlt. Und die Vermutung liegt nahe, dass es etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte. Er war Alkoholiker, wussten Sie das?«
    »Wir haben alle unsere Probleme«, wich Milenz aus.
    »Aber nicht jeder löst seine Probleme auf so radikale Art«, entgegnete Rößner. »Ist Ihnen nie etwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen? An seinem Verhalten oder an seiner Arbeit?«
    »Nur, dass er ziemlich in Ordnung war, für jemanden, der sich hauptsächlich durch Besitz definiert.«
    Sven erhob sich und ging um den

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