Sterblich
runter, aber die Tür ist verschlossen.
Er sieht sich um. Der Flur ist menschenleer. Dafür gibt es eine Reihe von Türen, die in Redaktionsräume oder Proberäume führen, wie er den Schildern entnehmen kann. An einer Wand hängen ein schwarzer Bühnenvorhang und ein Filmplakat mit der Aufschrift Für Elise .
Als Henning Schritte auf der Treppe hört, dreht er sich um. Ein Mann biegt um die Ecke und kommt direkt auf ihn zu. Yngve Foldvik. Er sieht genauso aus wie auf dem Foto. Der akkurate Seitenscheitel. Erneut hat Henning das Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, aber wieder kommt er nicht darauf, wo.
Er versucht, den Gedanken zu verdrängen, und geht Foldvik entgegen.
»Sie müssen Henning Juul sein.«
Er nickt.
»Yngve Foldvik, angenehm.«
Henning nickt noch einmal. Manchmal, wenn er Menschen zum ersten Mal begegnet, fällt ihm besonders auf, wie sie reden und mit welchen Phrasen sie um sich werfen. In diesem Fall Vor- und Nachname, gefolgt von angenehm . Sicher nicht wirklich außergewöhnlich, aber was veranlasst einen Menschen, angenehm zu sagen, wenn er noch gar nicht weiß, ob das Gespräch wirklich angenehm wird? Seine bloße Anwesenheit wird ja wohl kaum angenehm sein?
Nora, zum Beispiel, sagte immer: »Hallo, Nora am Telefon«, wenn sie etwas von ihm wollte. Ihre Art, sich zu melden, hat ihn jedes Mal irritiert, obgleich er ihr das nie gesagt hat. Allein die Tatsache, dass er den Hörer in der Hand hält und mit ihr spricht, setzt doch voraus, dass sie am Telefon ist.
Phrasen, denkt er. Wir umgeben uns mit Phrasen, ohne darüber nachzudenken, was sie eigentlich bedeuten oder wie überflüssig und sinnentleert sie oft sind. Natürlich hofft er auch, dass das Gespräch mit Yngve Foldvik angenehm wird, aber der Grund seines Kommens ist das nicht.
»Ich hoffe, Sie warten nicht schon lange?«, sagt Foldvik mit angenehmer Stimme.
»Ich bin gerade erst gekommen«, sagt Henning und folgt ihm in sein kleines Büro. Das Erste, was ihm auffällt, ist der riesige PC -Bildschirm und die zwei kleineren Fernseher an der Wand. Dann gibt es noch einen Arbeitstisch mit zwei Stühlen und jede Menge Filmplakate an den freien Flächen zwischen den Regalen, die voller Film-Lexika und Biografien stehen. In einem Fach entdeckt Henning das Drehbuch von Pulp Fiction in Buchform. Foldvik setzt sich auf den Stuhl, der am weitesten hinten im Raum steht, und bietet Henning den anderen an. Dann schiebt der Dozent sich bis zum Fenster und öffnet es.
»Ganz schön stickig hier«, sagt er. Hennings Blick fällt auf den Parkplatz und verharrt auf einem Auto, das an der Ecke Fredensborgveien/Rosteds gate an einer Ampel wartet, die auf Grün steht. Ein silbergrauer Mercedes. Ein Taxi. Selbst aus der Entfernung erkennt er, dass zwei Personen im Auto sitzen. Und auch das Taxischild auf dem Dach kann er dieses Mal entziffern: A2052.
Er entschließt sich, die Nummer zu überprüfen, sobald er dazu eine Gelegenheit bekommt.
Dann fragt Foldvik: »Womit kann ich Ihnen dienen?«
Henning nimmt das Aufnahmegerät heraus und sieht Foldvik mit fragender Miene an. Der Lehrer nickt.
»Henriette Hagerup«, sagt Henning.
»So viel habe ich verstanden.«
Foldvik lächelt. Auch das Lächeln ist angenehm.
»Was können Sie mir über sie sagen?«
Foldvik holt tief Luft. Sein Blick wird traurig, und er schüttelt den Kopf.
»Das ist …«
Henning lässt ihm Zeit.
»Henriette war ein außergewöhnliches Talent. Sie hatte eine wunderbare Schreibe und einen klaren Kopf. Ich habe hier schon viele Schüler erlebt, aber ich kann mich an keinen erinnern, der sie vom Potenzial her übertroffen hätte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie war vollkommen unerschrocken. Liebte es zu provozieren. Und ich kann Ihnen versichern, dass ihr das immer wieder gelungen ist. Und das waren Provokationen mit Substanz, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Henning nickt.
»War sie bei den anderen Schülern beliebt?«
»Henriette? Ja! Sie war sehr beliebt.«
»Extrovertiert?«
»Absolut. Ich glaube, sie hat kein Fest ausgelassen.«
»Ist die Stimmung hier an der Schule gut?«
»Sehr gut. Wir haben einen tollen Zusammenhalt, finde ich. Besonders Henriettes Jahrgang war wie zusammengeschweißt. Wir Lehrer predigen immer, dass in einem kreativen Prozess alles zugelassen werden sollte. Dass man loslassen muss, keine Hemmungen haben darf und einfach aufs Gaspedal treten muss. Man kann nicht durchstarten, wenn man die Meinung der anderen fürchtet.
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