Stern der Göttin
ihn seit mehr als einem Menschenleben nicht mehr betreten. Aber nun wollte er sich zuerst dorthin begeben, weil die Person, die er suchte, in dessen Nähe aufgetaucht sein konnte. Da er normalerweise keine Besucher dort duldete, schützte ein undurchdringlicher Wald aus Bäumen, die einst von den Magiern der Götter für den Krieg geschaffen worden waren, sein Refugium. Als er sich wenige Schritte vor dem Eingang zum Turm materialisierte, bemerkte er, wie stark dieser lebendige Wall gewachsen war, denn er sah sich sofort von Dornbäumen umringt, die ihn mit ihren eisenharten Stacheln bedrohten.
Sie erkannten ihn jedoch früh genug und öffneten ihm ehrfürchtig eine Gasse zum Turm. Ihrer magischen Ausstrahlung entnahm der Evari ihre Erleichterung, ihn wiederzusehen. Allerdings war ihm klar, dass er etliche Bäume würde umsetzen müssen, wenn er bequem in seinen Turm hineinkommen wollte.
Als er am Eingang angekommen war, fiel ihm zunächst nicht einmal das magische Zeichen ein, mit dem er die Tür zu seinem Turm öffnen konnte. Das sechseckige, wenig imposant wirkende Bauwerk erhob sich sechs Mannslängen über dem Erdboden und besaß einen Durchmesser von ebenfalls sechs Mannslängen. Dazu ragte es weitere zwölf Mannslängen in die Erde hinein.
Nach kurzem Nachsinnen erinnerte Khaton sich an das Symbol, welches ihm den Eingang öffnete. Als er es dachte und es auf eine bestimmte Stelle der Mauer richtete, verschoben sich einige der Quader und bildeten einen Gang, durch den er eintreten konnte.
Hinter ihm schloss sich die Wand wieder, und für ein paar Augenblicke stand der Evari in völliger Dunkelheit. Seufzend sprach er einen Lichtzauber und sah sich gespannt um.
Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert. Sogar eine Spinne saß noch an genau der Stelle an der Wand, an der er auch beim Verlassen des Turmes eine bemerkt hatte. Doch es mussten unzählige Spinnengenerationen zwischen dieser und der damaligen Spinne liegen. Oder hatte er, bevor er ging, einen Erstarrungszauber gesprochen? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, und das ärgerte ihn. Wieso hatte er eine so belanglose Sache wie diese Spinne im Gedächtnis behalten und so viele andere, viel wichtigere Dinge nicht?
Schnaubend machte er sich daran, seinen Turm zu durchsuchen. In dem aus der Erde herausragenden Teil gab es nur ein paar Kammern, die mit schlichten Wohnmöbeln ausgestattet waren, und eine Gewölbeküche, auf deren Herd noch ein Feuer brannte. Als er die regungslosen Flammen betrachtete, fiel ihm auch sein Erstarrungszauber wieder ein.
Also hatte er eben doch die Spinne von damals entdeckt. Mit einem Fingerschnippen beendete er den Zauber und sah zu, wie die Flamme zu flackern begann. Eine Schranktür öffnete sich, und ein Dienerwesen kam heraus. Es bestand wie sein Helfer in Thelan aus Kristall, besaß aber nur drei kurze Beine, drei Arme und einen sechseckigen Rumpf. Zunächst kontrollierte es das Feuer und die Töpfe, die auf dem Herd standen, dann kam es auf Khaton zu.
»Der Hohe Herr kann sich gleich zum Mahl setzen. Es ist alles bereit.«
Da Khaton wegen seines frühen Aufbruchs auf das Frühstück verzichtet hatte, nickte er dem Geschöpf zu. »Du kannst auftragen. Was gibt es?«
Das Dienerwesen nannte mehrere Gerichte, die vor hundert Jahren einmal zu Khatons Leibspeisen gehört hatten, ihn aber nach Frau Ketahs Kochkünsten nicht mehr reizten. Er überlegte, ob er den Speiseplan ändern sollte, fand aber, dass es den Aufwand nicht wert war. Allerdings beschloss er, sich in den nächsten Tagen ein Kochbuch aus Edessin Dareh zu besorgen und dem Geschöpf die Rezepte von Frau Ketah beizubringen.
Verwundert, warum er ausgerechnet an Kochrezepte dachte, während es so viel Wichtigeres zu tun gab, setzte Khaton sich in sein Esszimmer. In früheren Zeiten hatte er hier ab und an Gäste empfangen, aber das war schon lange her. Er erinnerte sich, wie er mit Tardelon und Rhondh, dem gelben und dem grünen Evari, hier gemeinsame Pläne geschmiedet hatte. Doch davon war kaum etwas Wirklichkeit geworden.
»Warum ist so vieles schiefgelaufen?«, stöhnte Khaton auf.
Das Kochwesen bezog die Worte auf seine Speisen und entschuldigte sich. »Der edle Herr mag verzeihen, wenn die Suppe nicht zu seiner Zufriedenheit ausgefallen ist.«
»Schon gut! Mein Ausruf galt nicht dir.« Khaton winkte ab und aß weiter.
Er schmeckte nicht einmal, was über seine Lippen kam, denn seine Gedanken flatterten umher wie Schmetterlinge.
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