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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ungepflastert und schlammig, so daß sie die Fußstapfen der Vorübergehenden aufbewahrten.
    Das Sonderbarste aber, es gab zwei richtige Ströme von Passanten in entgegengesetzten Richtungen. Die Leute besaßen aus irgendwelchen Gründen kein Reisegeduldspiel, oder sie verschmähten dessen Gebrauch, da sie ihre nahegelegenen Ziele zu Fuß erreichen konnten. Welcher Art aber die Ziele dieser Passanten sein mochten, blieb mir unerklärlich. Der eine dieser Menschenströme entsprang nicht weit von der Torruine, unter der ich mich gegenwärtig befand, der andre Strom nicht weit hinter dem Gegentor, das ungefähr tausend Schritte entfernt lag und seinen leeren Rundbogen grell gegen den Mittagshimmel hob. Zwischen diesen beiden Toren, jenseits derer der auffällige Verkehr sogleich verebbte, zog sich etwas hin, das man gut als altstädtisches Schachergäßchen oder als orientalischen Bazar hätte bezeichnen können, wären rechts und links verfallene Häuser, Häuschen, Baracken oder auch nur wacklige Kaufbuden gestanden. In Wirklichkeit wurde diese romantische Gasse mit ihren Lauerecken, Zwinkerkurven und sonstigen Winkelzügen nur von zwei langen, ziemlich niedrigen Mauerparallelen gebildet, die dem Anschein nach völlig zweck- und sinnlos waren. Ich konnte nämlich, wenn ich mich auf die Fußspitzen stellte, ohne Anstrengung über die Mauer hinweggucken, und was ich da zu sehn bekam, war nichts als endloser eisengrauer Rasen, nur in der Ferne von einigen spärlichen Hausgarteninseln unterbrochen. Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, ich stünde auf und im dichtest bewohnten Stadtbezirk, in einem Whitechapel, Ottakring, Wedding, Saint Cloud oder auf der Lower Eastside der astromentalen Metropole. Dieser Eindruck wurde noch durch die menschlichen Gesichter und Gestalten verstärkt, die an mir vorüberstrichen, ohne, wie es die gute Zeitsitte gewollt hätte, einander zu grüßen. Sie sahen ziemlich ernst und mürrisch aus und hielten die Blicke auf den Boden geheftet. Es war klar, ich hatte es in dieser ehemaligen Unterstadt mit den Mühseligen und Beladenen zu tun, das heißt natürlich nur mit den relativ Mühseligen und Beladenen. Schwächt aber das hinzugesetzte Wörtchen »relativ« die Tatsache der Mühseligkeit und Beladenheit wirklich ab? Hatte die ewige Jugend oder Alterslosigkeit, hatte die Herstellung aller Lebensgüter durch den Arbeiter, hatte die Ausschaltung jeglichen Mangels und wahrscheinlich der meisten Krankheiten, hatte die Erweiterung des Lebens bis an die Grenzen des Überdrusses die statistische Summe menschlichen Unglücklichseins tatsächlich herabgesetzt? Oder waren diese hier, wie sie düster hineilten, obwohl sie die Natur in einer für uns unfaßbaren Weise meisterten, ebensowenig glücklicher als wir glücklicher waren als die Steinzeitmenschen? Dies mochte vielleicht die zweitgrößte Streitfrage aller Zeiten sein. Der Großbischof hatte sie vorhin beantwortet. Doch er war verpflichtet durch sein Amt zu dieser Antwort.
    Es war, solange ich lebe – Verzeihung, solange ich lebte – stets einer meiner größten Genüsse gewesen, mich vom Menschenstrom treiben zu lassen, sei es durch die Prachtavenuen der Metropolen, sei es durch das finstere und verrufene Gassenwerk der Alt- und Unterstädte. Ohne die bewußte Absicht, Beobachtungen zu sammeln, sprangen in meiner Seele zehntausend Mosaiksteinchen menschlichen Schicksals zusammen. Ohne nach Abenteuern zu jagen, begegneten mir solche beim Bummel auf Schritt und Tritt. Auch hier, auf diesem abseitigen Korso der mentalen Welt, ergriff mich sogleich die alte, elektrische Lust, mich ins Getriebe zu mischen. Diese Lust hatte ich auf der zentralen Plaza, dem Geodrom, nicht empfinden dürfen, da ich dort gezwungen war, die Rolle einer Rarität zu spielen. Hier hingegen schien nicht einmal das lächerliche Festgewand des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts auffällig genug zu sein, um die Blicke auf sich zu lenken. Welch eine Erholung war es nun und hier, daß mir niemand unter den Dahineilenden die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Das mochte daher kommen, daß die Männer und Frauen in den beiden Strömungen auch nicht »normal« gekleidet waren, das will sagen, keine schleierigen oder batistenen Raffungen über ihrer verwischt leuchtenden Nacktheit trugen, sondern in stumpferes, gröberes und gewissermaßen traurigeres Zeug gewandet gingen. Es stimmt nicht ganz, aber man könnte diese Gewandung noch am ehesten mit

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