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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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sich mit dem Juden dieses Zeitalters herumzutreiben?«
    »Aha«, dachte ich, »wieder ein umgekehrtes Pluraletantum und daher in Amt und Würden!« König Saul stieß mich beim Vorübergehen leicht an. Er summte zwischen den Zähnen:
    »Hundert Schritte, dann links. Folgen Sie unauffällig.«
    Selbstverständlich war niemand arm. Das Wort Armut hatte ja seinen Sinn verloren, soweit es den Mangel an äußern Gütern und Lebensnotwendigkeiten beinhaltet. Auch in diesen Labyrinthen der »Ehemaligen Unterstadt«, wo ich mich jetzt befand, konnte jedermann seinen Appetit mit den raffiniertesten Substanzen befriedigen, sofern er Feinsinn genug besaß, sie zu genießen. Auch hier konnte er die zartesten, hauchdünnen Textilien aus den himmlischen Quellen und irdischen Kräften des Arbeiters beziehen, sofern ihm grobe und stumpfe Stoffe nicht lieber waren. Auch hier in den mentalen Slums waren die Wohnungen ebenso geräumig wie in der prächtigen Villa meiner Hochzeiter, die Ruhelager ebenso luxuriös, die Beleuchtungen ebenso phantasiereich, die Zimmerwände ebenso bereit, dynamische Tapeten, das heißt die Projektionen innerer Bilder zu reflektieren. Und doch, trotz alles gleichgearteten, verfeinerten Komforts, fühlte ich genau, daß ich mich hier unten in den dichtbewohnten Schlupfwinkeln der Armen und Verachteten befand, die sich hier zusammenschlossen, weil sie dort nicht dazugehörten, weil sie Wärme, Nähe, Enge suchten und unter dichter Nachbarschaft weniger litten als die andern. Mir ging eine Erkenntnis auf, für welche mein Geist zu Lebzeiten viel zu oberflächlich und positivistisch gewesen ist: Armut ist weit mehr als eine Folge von Mangel, welche mit diesem sofort verschwindet. Armut ist eine karmatische Begrenztheit der Seele, die auf der Ungleichheit alles dessen beruht, was ins Leben tritt. Armut und Reichtum sind viel weniger die individuellen Ergebnisse der Ökonomie als ihre Ursachen. Die wahren Armen und Reichen sind arm und reich geboren, im Sinne von Konstitution, wie man blau- oder braunäugig geboren ist, sanft oder jähzornig. Mit einem Wort – und es ist wichtig für die Erkenntnis aller wirtschaftlichen Revolutionen –, die Armut bleibt, auch wenn sie abgeschafft wird.
    Schließlich war auch der Einfältige dieses Zeitalters wirklich einfältig, wennschon er es bis zum binomischen Lehrsatz und zum Differentialkalkül gebracht hatte, worin er die meisten von uns übertrifft.
    Mit all dem soll nicht gesagt werden, daß Minjonman, der Jude dieses Zeitalters, zu den Armen, zu den Mühseligen und Beladenen gehörte. Er gehörte zu diesen ebensowenig, wie er zu den andern gehörte, zu den Io-Fagòrs, Io-Dos, den Wortführern und Beständigen Gästen.
    Das große Zimmer, in das er mich führte, unterschied sich von allen Zimmern, die ich bisher kennengelernt hatte, dadurch, daß es vollgepfropft war mit Erinnerungen. Ist das ein Wunder nach mehr als hunderttausend Jahren historischer Kontinuität? Ich war nicht im mindesten erstaunt darüber, denn daß ich bei Rembrandts König Saul Schriftrollen, altertümliche Folianten, siebenarmige Leuchter, Gewürzbüchsen mit kupfernen Fähnlein, Teppiche, braune Gemälde, antike Stoffe und dergleichen in Hülle und Fülle finden würde, das hatte ich vorausgewußt; ich möchte fast sagen, das hatte ich vorausinszeniert. Freilich, daß über allem eine dichte Staubschicht lag, wo es doch im mentalen Klima keinen andern Staub geben konnte als den der Jahrtausende, und daß es stark sowohl nach Moder als auch nach Kampfer roch, das hatte ich nicht vorhergewußt.
    Schön war es jedenfalls, daß Saul Minjonman mir einen Lehnstuhl hinschob wie vorhin der Großbischof und daß hier nicht erst ein snobistisches Bügelbrett zum Anlehnen aus der Wand geklappt werden mußte, wenn man müde war. Ich ließ meine Glieder behaglich in das Fauteuil sinken und gab mich dem Genuß der gebrochenen Linie hin. Der Jude des Zeitalters verschwand inzwischen in einen Nebenraum, von wo er nach einer Weile mit einer antiken Silbertasse auftauchte. (Sie hätte aus dem Stiftszelt von Silo sein können, so altertümlich sah sie aus.) Zwei weiße Krüge aus Porzellan standen darauf. Er setzte die Opfertasse auf ein niederes Tischchen, das zwischen uns stand, und begann in einer zugleich bitteren, witzigen, vorwurfsvollen und selbstironischen Art zu sprechen, wie es nicht nur ich, sondern auch jeder andere Fachmann von ihm erwartet hätte. König Sauls Nebensätze waren manchmal wie

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