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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Südseeinsulaner Muschelketten. Es waren Externisten und Kursbesucher. Sie riefen einander Spott- und Scherzworte zu, lachten und machten Lärm wie zu meiner eigenen Studienzeit. Vermutlich gehörten sie zu den untersten Stufen der chronosophischen Studentenschaft. Damit uns kein Pedell oder Pförtner aufhalte, hatte Io-Fagòr ein hellblaues Fähnchen entfaltet, das er hin und her schwang. Darauf stand geschrieben: »Ich bin ein Gönner und Förderer des chronosophischen und astropathetischen Unterrichts.«
    Das Wort »Unterricht« entspricht nur zum geringsten Teil den Tatsachen, die ich kennenlernen sollte. Es war eine geschämige Untertreibung. Ebensowenig würde das Wort »Wissenschaft« hinreichen, um den hehren Dingen gerecht zu werden, mit welchen man sich in den drei Hauptlamaserien beschäftigte. Der Unterricht, den ich in meiner Jugend kennengelernt hatte, vermittelte fertiges, gargekochtes Wissen, das man mittels des Gedächtnisses zu sich nahm und mittels des Vergessens wieder ausschied. Mehr oder weniger vage Wissensspuren blieben im Geiste zurück. Bildung hieß die gesellige Kunstfertigkeit, diese Wissensspuren flink zu allerlei mosaikartigen Mustern kombinieren zu können. Wie aber schon das Wort »Lamaserie« verrät, hatte die mentale Wissensaneignung nur sehr wenig mit dem oberflächlichen Schulbetrieb jener fernsten Vergangenheit zu tun, welcher ich zum Glück wieder angehöre. Lamaserien, das waren große, klosterartige Internate, in die man als Knabe eintrat, um sie erst wieder mit zweihundert zu verlassen, wenn das Leben zu Ende ging. War es aber so weit, so klagten die meisten Adepten der Chronosophie, der Sternwanderschaft, des Verwunderertums und der Fremdfühlerei, daß sie kaum bis zur Hälfte des Wissens vorgedrungen seien und als bessere Analphabeten aus den Welträumen schieden. Der wesentliche Unterschied zwischen der astromentalen und unserer alten intellektullen Schule lag darin, daß Wissen nicht ein abgetrenntes Stückwerk war, das man als Kollegheft in die Tasche steckte, sondern eine ganz bestimmte Seinsform, eine zur Existenz gewordene geheimnisvolle Essenz, mit der man sich vom ersten bis zum letzten Tag körperlich, seelisch und geistig zu durchtränken hatte.
    Ich habe soeben behauptet, daß die mentale Wissensaneignung nichts mit dem Schulbetrieb aus unsern Anfängen der Menschheit zu tun hatte. Diesen Satz halte ich hartnäckig aufrecht, obwohl ich mich nach einigen Irrläufen innerhalb der äußeren Vorhöfe des Djebel in ein regelrechtes Klassenzimmer versetzt fand, das recht gut mein eigenes Klassenzimmer in der Volksschule der Piaristenpatres hätte sein können, in welchem ich Lesen und Schreiben gelernt habe. Die schwarze Tafel war da, das große Podium mit dem Katheder des Lehrers, die weißgetünchten Wände, ein Schrank mit verschiedenen Globen, kurz alles, bis auf die Schulbänke. Statt ihrer standen Pritschen mit hochgestützten Lehnen neben- und hintereinander in Reih und Glied. Das Ungewöhnlichste aber waren die Schlafsäcke aus durchscheinendem, regendichtem Stoff, die auf den Pritschen lagen. Mir wenigstens erschienen sie auf den ersten Blick fälschlich als Schlafsäcke. Sonst aber standen dieselben halbwüchsigen Buben umher, die meinen Mitschülern von ehemals glichen, bis darauf, daß sie enganliegende Lederkappen mit Ohrenklappen über ihre Kahlköpfchen gezogen hatten. Sie betrachteten mich neugierig und mißtrauisch, nicht anders als wir einen Eindringling oder Hospitanten meiner Art betrachtet hätten. Sie hatten ihre Allotria unterbrochen, schwiegen und waren verlegen, ebenso wie ich und B. H. Mein Freund hatte darauf bestanden, bei dem anscheinend so harmlosen Abenteuer dieser Schulstunde an meiner Seite zu sein. Ich fühlte, daß unsere Anwesenheit den Jungen immer komischer vorkam und daß wir über kurz oder lang mit dem Ausbruch einer höhnischen Klassenheiterkeit zu rechnen haben würden. Da entblößte ich für alle Fälle ein wenig die violette Handgelenkschleife, worauf sofort ein erregtes und achtungsvolles Tuscheln einsetzte. Man hätte nicht glauben sollen, daß dieses ehrende Angebinde, das ich selbst zuerst nicht hoch genug eingeschätzt hatte, einen solchen Eindruck selbst auf die astromentale Schuljugend machte. Da aber hatte schon der Lehrer mit langausgreifendem Lehrerschritt die Klasse betreten.
    Der Lehrer war ein Lehrer jeder Zoll. Seine Erscheinung bewies mir, daß gewisse Grundtypen der Menschheit unberührt bleiben von den

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