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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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extremsten Verwandlungen und Entwicklungen der Geschichte. Sogar die schwärzliche Kutte des Beamten, in welche er seinen bläßlich schmalen Leib nervös und fröstelnd hüllte, war lehrerhaft. Ebenso lehrerhaft war die Art, mit der er plötzlich zusammenzuckte, mit leerem Ausdruck sein Handgelenk betrachtete, mißbilligend spöttisch den Mund verkniff oder argwöhnische Blicke über seine Klasse hinschweifen ließ, um in der letzten Reihe irgendeinen Unfug zu entdecken, der ihn mit Lehrerschmerz, Lehrerzorn und Lehrersorge für den betreffenden Schüler erfüllte, jenachdem. Er trug einen langen Geographiezeigestab in der Rechten, den er teils als Stütze, teils als Waffe, teils als Taktstock zu nützen gesonnen schien. Manchmal fuchtelte er mit ihm drohend in der Luft herum, wenn das zackige Geschwätz der Buben oder eine falsche Antwort seine Geduld erschöpft hatte. Für mich bedeutete der archaische Charakter des Lehrers eine außerordentliche Beruhigung. Denn warum soll ich’s verheimlichen: ich sah meiner ersten chronosophischen Schulstunde mit einigem Bangen entgegen, oder, um es ganz richtig auszudrücken, mit einer Art von kosmischer Angst. (Das, was ich hier kosmische Angst nenne, war ein Erbteil meiner Kindheit, das ich mir erworben hatte, als ich das erste Mal Aufklärung über die wahre Natur der Himmelskörper empfing.) Ich hätte mir gewünscht, der Lehrer würde dann und wann auch mich ins Gebet nehmen wie seine anderen Schüler. Das hätte mir ein großes Sicherheitsgefühl gegeben. Er hingegen behandelte mich nicht nur mit ausgesuchter Hochachtung, sondern sogar mit scheuem Respekt, als wäre ich ein amtlicher Schulinspektor, der ein folgenreiches Urteil über seine pädagogischen Eignungen abzugeben habe.
    Wir drängten uns vorerst vor dem Katheder des Lehrers, B. H., ich und die ganze Klasse, die aus etwa zwanzig Schuljungen bestand, die meinem Gefühl nach zehn bis dreizehn Jahre alt sein mochten. Wieviele Jahre sie im mentalen Leben wirklich zählten, das konnte ich nicht beurteilen. Der Lehrer hatte mit hoheitsvollem Gesichtsausdruck seine Klasse zweimal abgezählt; nun murmelte er formelhaft:
    »Wir stellen uns jetzt rechterhand an die Lager der Ruhe und der Bewegung!«
    Mit Lärm, Gelächter, Getrampel gehorchten die Buben dieser Weisung. B. H. aber und ich blieben verlegen stehen. Da eilte der Lehrer vom Podium auf uns zu und führte uns mit steifen Kopfneigungen und geziertem Lächeln zu den beiden längsten Strecksesseln oder Pritschen in der ersten Reihe.
    »Diese beiden Lager der Ruhe und Bewegung«, sagte er, »sind für die Herren reserviert.«
    Crescendo im Schuljungengeschwätz indessen. Der Lehrer hob den Kopf mit einem Ruck, wurde zornig und rief:
    »Ruhe da hinten! Kann ich das bißchen Ernst und Feierlichkeit nicht erreichen, um das ich die Klasse täglich anflehe, und heute gar, wo uns hohe Hospitanten mit der violetten Handgelenkschleife die Ehre geben?« (Er verneigte sich vor mir und B. H., ohne aber seine Mahnrede zu unterbrechen.) »Wir werden sogleich in den Weltraum auffahren, und Ihr benehmt euch wie die Babies im Park des Arbeiters. Wenn es auch nur der ›Kleine Weltraum‹, das ›Niedere Intermundium‹ ist, den wir mit unseren lieben Gästen heute ein bißchen durchturnen wollen, so muß ich doch darauf bestehen, daß es mit Ernst und Feierlichkeit geschieht. Ernst und Feierlichkeit sind die Lampen, in denen die wahre innere Freude brennt. Man soll voll innerer Freude sein, wenn man in das Intermundium auffährt …!« Er unterbrach sich und suchte plötzlich mit fast tückischem Lehrerblick ein Opfer:
    »Wenn es der Sprachgebrauch auch erlaubt zu sagen ›Auffahren‹, ist dieses Wort sinngemäß und richtig? Antworten Sie, Schüler Io-Schram, der Sie Ihrem Nachbar so viel zu erzählen haben.«
    »Nein«, zögerte eine Schülerstimme hinten, »es ist nicht sinngemäß zu sagen ›Auffahren‹, Herr Lehrer …«
    »Und warum nicht, guter Io-Schram?«
    »Aus mehreren Gründen, Herr Lehrer«, entgegnete der Schüler immer tastender.
    »Ei, sieh da«, lachte der Lehrer ziemlich giftig, »Schüler Schram hüllt sich in Allgemeinheiten. Wie wäre es, wenn Sie die Güte hätten, mir wenigstens einen von Ihren mehreren Gründen zu nennen?«
    Lange Pause. Dann kam stockend unsicher die Antwort:
    »Weil man ebenso … nach unten auffährt … wie man nach oben abfährt …«
    Die Klasse brach in eines jener Hohngelächter aus, deren Opfer jedermann, der ein

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