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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vielen Jahrhunderten entwickelt hatten: die Vertiefung, die Vergeistigung, die Vergöttlichung oder, was dasselbe ist, die Vernichtung des Zeitgefühls im Menschen durch den täglichen Umgang mit dem sideralen Universum.
    Die Initiative ging natürlich von unserm Knirps aus, dem Augapfel des Lehrers. Knirps hatte für eine der Erscheinungen des Niederen Intermundiums eine besondere Vorliebe und fast eine kindliche Schwärmerei. Dies war das Mare Plumbinum, ein gewaltiges Binnenmeer aus geschmolzenem Blei, das sich auf dem letzten der drei inneren, das heißt der Sonne zunächst gelegenen Planeten befand, von denen unsere Erde der drittletzte ist. Ich spreche vom ehemaligen Merkurstern, dem Hermes der Griechen, dem Nabu der Chaldäer, welche seine intellektuelle (prophetische) Wesenheit schon frühe erkannt hatten: Eine Wesenheit aus Leichtfertigkeit und Grübelsinn sonderbar gemischt, weshalb sie ihn auch der Schriftgelehrsamkeit weihten, da sie vermutlich den windigen Charakter der Schriftsteller genau kannten. Heute – ich meine das mentale Heute – hieß der christlich getaufte Merkur nicht mehr nach dem Götterboten mit dem Zweischlangenstab, sondern er hieß nach Jesu Christi Lieblingsjünger: Johannes Evangelist. Die Umtaufe der Himmelskörper war nicht ohne induktiven und deduktiven Tiefsinn erfolgt. Der Evangelist Johannes, der Prophet der Apokalypse, der das Göttlichverborgene offenbart, entsprach aufs feinste Hermes und Merkur, dem Sendboten des Verborgenen, dem Mystiker unter den Göttern, an dessen Stabe die Äskulapschlange des Heils und die Versucherschlange des Unheils sich umschlingen. Zugleich aber, als nächstes Geschöpf, niemals von der Seite der Sonne weichend, versinnbildlichte der Planet den Lieblingsjünger Johannes, der vom Heiland nicht abläßt.
    Es war also Io-Knirps, der dem Lehrer die Erlaubnis zu einigen Extravaganzen abschmeichelte. Wir durften noch schneller um unsere schiefgeneigte Achse wirbeln und uns noch länger strecken als vorher. Nicht nur ich, sondern auch B. H. war nach und nach der unsagbaren Lust des Kometenturnens auf die Spur gekommen. Einmal konnte sich der sonst so gesetzte Wiedergeborene nicht zurückhalten und brach wie ein Schwimmer in einen rauhen langen Jubelruf aus, der hohl in der resonanzlosen Leere verzischte. Wir verwandelten uns nun ich weiß nicht in wie lange Striche und Strahlen, die sich unaufhaltsam vorwärts streckten. Da aber das ganze System, wie der Vorüberzug der Maria Magdalena bewiesen hatte, sich uns entgegen bewegte, so geschah es urplötzlich und unversehens und, wie man mir glauben wird, nur mit einem kleinen Teil unseres tief hypnotisierten Bewußtseins, daß wir in die grelle, schrille, gellend auf uns zuwachsende, rasch den ganzen Raum erfüllende, schließlich zu einer weltweiten Schüssel mit hochgeworfenen Horizonten sich höhlende Merkurscheibe des Johannes Evangelist uns einschraubten und einbohrten. Das Unerklärliche, das heißt das Unerklärliche für nicht Vollchronosophen war, daß niemand von uns Schaden nahm, daß wir, obwohl im Bereich der neuen Gravitation sofort aufhörend, Himmelskörper zu sein, nicht als schäbige Meteore verpufften, sondern daß wir, wie vorhergesehen und vorhergewünscht, auf dem silbernen Mare Plumbinum landeten, sehr nahe der Küste, und uns sogleich mit dem geschmolzenen Blei, das uns nicht verbrühte, anzuspritzen begannen wie Kinder, die in einem Teich baden. (Es muß schließlich beachtet werden, daß die meisten von uns auch Kinder waren.)
    Während ich also in etwas gespielter Kindlichkeit spritzte, lachte, tollte und die sonderbare Elastizität des schwerflüssigen Schmelzmetalls mich bei jedem Sprung hoch in die Luft warf (welche es freilich hier nicht gab), war mir gar nicht so leichtsinnig und kindlich zu Mute. Ein dicker, schwarzsilberner Dampf wolkte aus dem Bleimeer allüberall zum Himmel. Man hätte uns nur die Glaskugel vom Kopfe schrauben müssen mit ihrer sich stets erneuernden Erdlebensluft, dann wären wir nicht nur erstickt, sondern eine gewaltige Bleivergiftung hätte uns im Nu getötet. Obwohl Blei dasjenige Metall ist, das, wie jeder zumindest von der Neujahrsnacht weiß, schon bei geringen Hitzegraden schmilzt, so mußte auf dem dampfenden Mare Plumbinum dennoch keine empfehlenswerte Temperatur herrschen. Unser Raumtauchergewand war freilich so beschaffen, daß wir kein anderes Klima verspürten als etwa in den mentalen Häusern, hier wie überall. Erst später erfuhr

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