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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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splitterndes Geräusch, das ich mit keiner Art von irdischem Lärm vergleichen kann. Warum das Bleimeer brandete, da es doch keiner Rotation unterlag, weiß ich nicht, ebensowenig wie ich weiß, warum es, da keine Atmosphäre vorhanden war, in solchen Wolken von dickem, silbernem Ruß steil zum Himmel qualmte. Die Geschwindigkeit freilich, mit der diese todfremde Welt, auf der ich mich befand, sich um die Sonne bewegt, war im Vergleich zur Erdengeschwindigkeit rasend zu nennen. Wurden vielleicht die Partikel dieser sonderbarsten aller Meeressubstanzen in Form von Metallwolken durch die Gewalt des überwältigend raschen Umlaufs in den Raum gerissen? Wer bin ich, daß ich diese Frage beantworten könnte? Ich stellte sie mir nicht einmal, ebensowenig wie ich mich wunderte, daß ich in dem geschmolzenen Bleimeer nicht versank, sondern mich auf dessen Oberfläche wundervoll bewegte und zugleich in den glühenden Schmelzfluß unverbrüht greifen konnte wie in ein besonders fettes und warmes Spülwasser. Ein Himmel aus Perlmutterschuppen und Opal. Wohin das küstenüberblickende Auge reicht, tausendzackige Gebirgszüge aus tiefstem Glanzschwarz und leuchtender Blutfarbe. Ein Weltmeer aus dickem, trägem, stumpfsilbernem Schmelzmetall mit langen Wellenstrichen wie Falten auf einer schweren Decke, darüber ins Unendliche aufsteigende Wolken, die nichts anderes sind als zu rußigen Staubgebilden geballte Haufen von Metallteilen, das war die Landschaft des Johannes Evangelist, die ich mir selbst kaum mehr vors Auge rufen kann.
    Viel wichtiger aber als die Ungemäßheit der Merkurlandschaft war für mich die Ungemäßheit meinerselbst in dieser Umgebung. Gegen die Macht dieses Fremdheitsgefühls erschien mir das ganze Kometenturnen bereits als eine liebe alte Gewohnheit. Dort oben im Grauen Neutrum war ich schwerelos. Völlige Schwerelosigkeit aber läßt sich nicht erleben. Hier hingegen auf dem Johannes Evangelist war ich leicht. Und Leichtigkeit war ein äußerst verblüffendes Erlebnis. Da ich vermutlich astronomisch ungebildeter war als der Einfältige des Zeitalters, ganz zu schweigen von dem jüngsten chronosophischen Schulbuben, so wußte ich noch nicht, daß Merkur der kleinste, massenärmste und schwächste aller Wandelsterne ist und kaum den vierten Teil der irdischen Schwerkraft besitzt. Meine hundertsechzig amerikanischen Pfunde waren daher augenblicklich kaum achtzehn europäische Kilogramm wert. Die Fluchtgeschwindigkeit, mit der man dieser armseligen Schwerkraft entgehen konnte, betrug nur etwas über drei Kilometer in der Sekunde, was selbst für uns Anfänger in der Chronosophie kaum der Rede wert war. Doch all diese billige Wissenschaft in Maßen und Gewichten, in Zahlen und Ziffern, erwarb ich selbstverständlich erst nachträglich. Als ich auf dem Marc Plumbinum des Johannes Evangelist konditionierte – wir wiegten uns auf dem geschmolzenen Metall wie auf einer prächtig federnden Matratze –, da erlebte ich meine eigene Leichtigkeit als eine einzigartige Erfahrung. Mein Gewicht war zu dem eines Kindes zusammengeschmolzen, meine irdische Muskelkraft hatte sich dagegen nicht verändert. Nicht nur konnte ich, von der elastischen Oberfläche mich leicht abstoßend, hundertmal so hoch springen wie vergleichsweise ein Gummiball und dann schwebend und zögernd auf der Oberfläche landen wie eine schwerere Schneeflocke, ich flog auch, der Horizontale verschworen, mit einem einzigen beschwingten Schritt zu meinem eigenen Schrecken weit ins Bleimeer hinaus, so daß ich unsere Gesellschaft fast aus den Augen verlor. Sofort natürlich schwang ich mich zurück, denn eine fürchterliche Angst, allein in dieser tödlichen Fremde zurückbleiben zu müssen, verließ mich nicht. Ich kann nicht behaupten, daß meine Leichtigkeit ein völlig eindeutig angenehmes Erlebnis war, stand sie doch im Widerspruch zum Wesen unseres Körpers, der für ganz andere Zwecke eingerichtet ist. Nur Io-Knirps, das kosmische Tänzergenie, genoß die geringe Schwerkraft und den Mangel an Atmosphärenreibung aus vollen Zügen. Er sauste heran wie ein Blitz, und er verschwand wie ein Punkt hinterm Meereshorizont; er beschrieb Schleifen, Kreise, Kurven, Achter, Spirallinien und komplizierte Figuren von einem Ausmaß und einer Eleganz, daß ihm selbst unser Lehrer sprachlos zusah. Schließlich aber befahl ihm der Lehrer, seine Vorstellung zu beenden, denn es sei hoch an der Zeit, die Planetenvisite abzubrechen; man habe sich der letzten und

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