Stern der Ungeborenen
höchsten Betrachtung noch nicht genügend hingegeben. Bei dieser Mahnung ließ er einfließen, daß ein längerer Aufenthalt auf den Planeten eine Gefahr für den Charakter irdischer Menschen bedeute. – Um so mehr muß man den Mut und die gigantische Seelenstärke der großen Meister in den Erkenntniszellen der Sternwanderschaft, des Verwunderertums und der Fremdfühlerei bewundern, die in ihrem Leben viele Millionen von Lichtjahren zurückgelegt und den fernsten Sternnebeln standgehalten haben. – Die erwähnte Gefahr bestehe darin, daß zwei planetare Naturen während eines solchen Aufenthaltes im Menschen in Streit geraten. Und genau dasselbe fühlte jetzt ich, ohne daß es der Lehrer mir erst hätte genau darzulegen brauchen. Ich fühlte, daß ich von Minute zu Minute mehr merkurisiert wurde. Meine Sinne begannen sich den verwandelten Verhältnissen anzupassen. Meine Instinkte wußten nicht aus und ein. Mein Bewußtsein war verwirrt. Der Lehrer ordnete an, nachdem er mich mit einem Blick gestreift hatte:
»Wir nehmen uns an der Hand und bilden eine Reihe und bewegen uns nicht, sondern geben uns mit aller verfügbaren Feierlichkeit der hohen Betrachtung hin.«
Ich ergriff links die Hand von Knirps und rechts die Hand von B. H. Wir mußten den Kopf nicht erst heben zur Betrachtung des Größten im Kleinen Weltraum, des Höchsten im Niederen Intermundium, wir mußten ihn aber auch nicht wegwenden, denn die Metallwolken waren so dicht und unsere Kopfkugeln so dunkel beschlagen, daß wir sogar in diese Sonne schauen durften, ohne zu erblinden. Diese Sonne aber, die Sonne des Lieblingsjüngers und Apokalyptikers war, vorsichtig gerechnet, acht- oder neunmal so groß wie unsere Erdensonne. Aber nicht auf die Größe kommt es an, obschon auch diese kaum zu ertragen war.
Es war schwer, den Kopf aufrecht zu halten, ohne in ein Winseln fassungsloser Zerknirschung auszubrechen. Nein, diese Sonne hatte nichts mit der Erdensonne zu tun, die blendend freundlich am Himmel steht, harmonisch ausgeglichen, von spielenden Kindern und fröstelnden alten Leuten im Stadtpark begrüßt, ein Gestirn, das sein Wesen am ehesten noch während einer Verfinsterung entpuppt, wenn die guten Leute auf den Hausdächern es durch berußte Gläser angucken. Diese Sonne hier, die sich uns im Bleidampf offenbarte, war nicht mehr die alte liebe Gewohnheit, war nicht Helios und Apoll, der Stern göttlichen Ebenmaßes, sie war ein wallendes goldenes Vlies, sie bestand aus gesträubten Locken, aus lodernden Flocken, aus Wolle von Weißglut; sie zuckte auf in tollen Zeugungswonnen, sie wand sich in Mutterwehen, sie raste in jubelnden Ausbrüchen, sie riß ihr Herz in blutroten Protuberanzen auf, sie warf flammende Hüllen von sich, die ihre Selbstverschwendung zu ersticken drohten, sie brannte als ein Orkan unbegreiflicher Lebenstätigkeit, ihre Spannung kannte kein Nachlassen, sie spielte vor Gott und sich selbst von Anfang zum Ende das Drama des Seins.
Nur Ernst und Feierlichkeit? Keinem hätte es genügt. Ich fühlte, wie B. H. in seinem Raumtauchergewand erschauerte, doch auch der mentale Knirps war außer sich. Die Tränen liefen ihm übers fieberrote Gesicht. Wie um uns zurückzurufen aus der Hinfälligkeit des körperlichen zur Souveränität des geistigen Menschen, stellte der Lehrer schnell eine Prüfung an:
»Wer kann mir Urslers erstes grundlegendes Paradoxon nennen?«
Einer der Antworter riß sich zusammen. Er konnte es und ratschte nach guter Schülerart:
»Wenn die Energie eines Lichtgestirns größer ist als sie selbst, dann muß sich dieses Gestirn opfern, das heißt durch Glorifikation selbst zerstören.«
Wenn eine Energie größer ist als sie selbst … Ich schloß die Augen, um nicht mehr die neunfache Sonne des Johannes Evangelist betrachten zu müssen. Ich stand in einer Glocke von flammendem Scharlach. Ich wußte nicht länger, wo ich war. Diese Worte aber, deren Sinn mir nach meiner Rückkehr nicht mehr so klar ist, damals verstand ich sie bis auf den berauschenden Grund. Wenn eine Energie größer ist als sie selbst, dann ist die Stunde des Opfers, die Stunde des Phönix gekommen, der sich in sich selbst verbrennt. Das Sonnenleben in seiner tiefsten Bedeutung ist ein Opferakt, eine ewige welternährende Liebeshingabe. Wenn eine Schönheit schöner, eine Liebe liebender, eine Kunst künstlerischer, eine Heiligkeit heiliger ist als sie selbst, dann ist der Augenblick des Wunders da … Inmitten des flammenden
Weitere Kostenlose Bücher