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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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derselbe Mensch sich auf dem Filmstreifen der planetaren Landschaft kraft jener Synchronisierung befand und bewegte und, einem der mentalen Tricks gehorchend,
sich selbst
auch wirklich erleben durfte? Ich für meine Person habe in dem materialistischen Zeitalter des zwanzigsten Jahrhunderts nie daran geglaubt, daß unsere Abbilder, in Sonderheit unsere Lichtbilder, unsere Photographien, diese zweidimensionalen Abzüge unserer existentiellen Gegenwart, etwas Totes sind. Oft habe ich mich gewundert, daß solch ein photographierter Mensch sich aus seiner Zweidimensionalität nicht löste, um den Herzensmonolog des Augenblicks zu sprechen, den er verewigen mußte. Warum also sollte ich nicht, was ich jetzt erlebte, als plastisch photographierte Gestalt auf der plastisch photographierten Jupiterlandschaft erleben, durch den Mentalismus daselbst nicht nur synchronisiert, sondern, obwohl selbst nur ein Bild, auch zum Bewußtsein erweckt? Ich breche hier mein Versprechen, keine Erklärungen zu geben, einzig und allein deshalb, weil die obigen Überlegungen meinen Geist tatsächlich durchzuckten. Und ich verschweige diese Gedanken vor allem deshalb nicht, weil etwas sich sogleich ereignen wird, was auch der empfindlichste mentalisierte Filmstreifen im optischen Zentrum des Djebel nicht festhalten könnte …
    Flachgepreßt, doch tief gebückt, saß ich auf meiner Düne und bemerkte immer deutlicher, daß die starre Oberfläche des Eisenmoors sich von Augenblick zu Augenblick verkleinerte. Nun rumpelte, polterte, donnerte und knirschte es auch hinter meinem Rücken auf der uninteressanten Seite von vorhin. Wie lange konnte es noch dauern, ehe ich selbst in die Höhe geschleudert und dann würde zwischen diesen Plastilinkiefern zermalmt werden, die zwar tückisch zurückwichen, aber nicht nachgaben, wenn die Elastizitätsgrenze erreicht war? Wieder einmal erwies es sich, daß im Leben der stählerne Charakter von Mensch und Materie weniger gefährlich ist als der gummig dehnbare. Nicht genug mit dem Wogentanz des Moorbodens, ein neues Ereignis übergipfelte die vorigen. Es wurde dunkler und dunkler plötzlich. Unter dem alltäglichen Sturmgewölke des Jupiterhimmels brausten jetzt von allen Seiten sehr tief hängende, beinahe schwarze Wolkenfetzen gegeneinander, mit eingelegten Lanzen gleichsam, Geistersotnien durchgehender Rappen, von mythologischen Kosaken geritten, die terre-à-terre sich in die Mähnen verkrallten. Einen Atemzug später wußte ich: Das sind keine Wolken. Es ist frei in der Atmosphäre schwebender Jupiterboden, in Fetzen gerissen. Die Schwadronen aus unkonsolidierter Planetenerde krachten ineinander, und das unglaubwürdigste aller Gewitter hub an. Zwischen den Wolken aus Plastilin, die von nicht geringerer Dichtigkeit und Festigkeit waren als der Boden unter ihnen, knatterten dauernde, verharrende, erstarrte Blitze, ein Geflecht beständiger Entladungen wie etwa bei Leidener Flaschen von unausdenklichem Maß. Die Hoffnung, ich sei nur ein synchronisiertes und photomontiertes Bild, das sich selbst erlebt, war geschwunden.
    Aufrichtig gesagt, mein ganzer Intellekt war geschwunden, von der wachsenden Not überwältigt. Ich vergaß alles, mein ehemaliges Leben, die hunderttausend Jahre meiner Absenz, mein überraschendes Wiedererscheinen, all das Außerordentliche, was mich zu Überlegenheit und Ironie und Verachtung des Schicksals verpflichtet hätte. Ich war nichts als ein Robinson Crusoe des Jupiters, oh welche Selbstüberschätzung, ich war nichts als ein Mensch in Todesnot, was so viel heißt wie ein armseliger Realist, mit nicht mehr als zwei ungeduldigen Jupiterminuten hinter und zwei vor mir. In der zweiten Minute, die noch vor mir lag, zog sich die Düne, auf der ich saß, mit einem unvergeßlichen Aufstöhnen zusammen, spitzte sich zu, wuchs in die Höhe den knatternden Dauerblitzen entgegen, immer mehr … Ich fühlte mich hochgetragen, versuchte mich tiefer in den nassen Schlamm zu bohren, noch ein Atemzug, und die Welle wird mich abwerfen wie ein ungeheures fuchsrotes Pferd. Ich dachte in der letzten Sekunde an die heilige Kraft, die mich nicht nur einmal im Leben gerettet hatte, und es ertönten auf dem ungefestigten Riesenplaneten zum erstenmal seit Erschaffung der Welt diese lateinischen Worte aus einem irdischen Mund: »Ave Maria, Gratia plena, Dominus tecum …«
    Ich wußte von Engeln nur so viel, wie jeder weiß, der sich mit den heiligen Schriften ein wenig befaßt hat. Ich wußte zum

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