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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nur mich allein. Nur mich allein? Oft wird es mir so verwunderlich bewußt, daß es keine Menschenseele gibt, die nicht
alles
erlebt, was die Welt an Erfahrungen darbietet, äußerlich und innerlich. Ohne das gäbe es ja keine Gleichheit vor Gott. Der Unterschied der Seelen liegt nicht in ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit, die tiefsten Erfahrungen zu machen, sondern nur in dem Grade der Artikulation, mit welcher sie diese Erfahrungen zur Kenntnis nehmen dürfen. Selbst diejenigen, welche in ihrer Einfalt die geheimnisvolleren Zustände unserer Seele für »verstiegene Einbildungen« erklären, sind erfüllt und durchdrungen von ihnen. Immer wieder hofft man daher, daß selbst die unaussprechlichste innere Erfahrung einen Kenner findet, der brüderlich überrascht ausruft: »Genau dasselbe habe ich erlebt!«
    In meiner begreiflichen Angst vor dem Schlaf hatte ich mich gestern mit Hilfe B. H.’s die ganze Nacht wachgehalten. Heute, da bereits die zweite Nacht meines Aufenthalts im Fortschreiten war, hatte ich meine Angst vor dem »Verlorengehn« vergessen, oder besser gesagt, weil ich mir selbst nach dem tragischen Geschehn viel unwichtiger geworden, so war auch die Angst vor dem Verlorengehn zusammengeschrumpft.
    Dies der Grund, warum ich kühn meinen Schwalbenschwanz ablegte, meine Schuhe auszog und mich aufs Ruhelager warf, die Augen dem offenen Fenster zuwendend, durch welches die künstliche Bergnacht, wie wir sie schon kennen, ins Zimmer sah, und dann und wann auch schwache, angenehme Windhauche mein Gesicht mit Kühlungen überliefen. Und es geschah, daß ich, der erst vor kurzer Zeit von B. H. aus dem Alphabet gestochen und durch die hochentwickelte spiritistische Praxis meiner neuen Zeitgenossen aus dem Abgrund des Todes physisch und psychisch neu zusammengesetzt worden war, wieder auseinanderfiel. Nein, das ist übertrieben, und man stellt sich gewiß unter dem Worte auseinanderfallen etwas Unrichtiges vor. Ich fiel nicht in mehrere Bestandteile auseinander. Ich ging nur entzwei. Genau gesagt, ich wurde doppelt, wodurch ich allen ausgebildeten Psychologen die Gelegenheit biete, mich für einen armen Schizophrenen zu halten und beruhigt aufzuatmen.
    Es geschah also, daß ich in zwei Hälften zerfiel, die unendlich weit voneinander entfernt waren. Und jetzt muß ich um gütige Nachsicht bitten, da ich mit durchaus ungenügenden Worten einen Zustand zu beschreiben habe, gegen den jeder lichtfrohe, wache Sinn sich wehrt, auch der meinige. Ich zerfiel nämlich in einen Herrn F. W., der sich so gut wie nirgendwo befand und nichts von sich wußte, und in etwas anderes, etwas zweites, etwas sehr Fragmentarisches, etwas äußerst Begrenztes, das aus keiner andern Funktion zu bestehen schien, als daß es um jenen ominösen Herrn F. W. wußte. In Wirklichkeit war dieses andere, dieses zweite, das von Herrn F. W. wußte, keine Person mit Leib, Seele, Willen, sondern nichts als ein frei im Raume schwebender Gewissensbiß (konzentriertes jäh illuminiertes Bewußtsein einer Schuld) oder, wenn man will, eine frei im Raume schwebende Furcht, die Missetat werde schließlich und endlich doch herauskommen. Welche Missetat, Jesus Maria? – »In jeder wirklichen Missetat ist Mord enthalten.« – »Wer ist der Ermordete?« – »Herr F. W. natürlich.« – »Der bin ich doch selbst.« – »Nicht so ganz, wie Sie denken.« – »Und wer hat Herrn F. W. ermordet?« – »Das, was von ihm weiß, das, was übriggeblieben ist, das, was sich fürchtet, daß es herauskommt.« – »Ich war nie ein Selbstmörder. Dazu war ich immer zu leichtsinnig, zu leicht sinnlich.« – »Niemand spricht von Selbstmord, es handelt sich um Mord.« – »Das könnte stimmen, denn ich habe ja nicht nur Herrn F. W. umgebracht, sondern auch A. B., A. C., A. D. und einige andere Ixypsilons.« – »Sind alle neben Herrn F. W. vergraben.« – »Ich bin doch nur ein Punkt von schmerzhaftem Wissen. Antworte ich mir selbst? Wer antwortet mir?« – »Hallo, hallo, hier spricht der Resonanzboden.« – »Soll das heißen, daß alles registriert wird von Ewigkeit zu Ewigkeit?« – »Überflüssige Frage. Zum Teufel mit euerm Polizeistaat! Kommt man niemals aus dem Polizeistaat heraus, von Ewigkeit zu Ewigkeit? Ich möchte der Teufel sein, wenn ich an die Dossiers der Kausalität denke.« – »Schon erfüllt, dieser Wunsch.« – »Aha! Das also ist die Hölle, in die ich vom Urlaub wieder zurückgekehrt bin. Ich weiß nicht

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