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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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das Häuflein Schießpulver, luftdicht in einer rostigen Patrone verschlossen, die durch Zufall oder Fügung im Trommelloch eines Schießprügels nicht zugrunde gegangen war, sondern ordnungsgemäß ihr Bleiprojektil durch den Drall des Laufs gepreßt hatte. Die Wirkung des dumdumartigen Geschosses war entsetzlich. Es hatte das leuchtende Antlitz vollkommen zerschmettert. Mit Menschenblut und Hirn war die Loge ringsum bespritzt. Seit Generationen hatte die Kulturwelt keinen Totschlag mehr erlebt. Keinen Totschlag nur?
    Soweit das Gedächtnis dieser Kulturwelt reichte, hatte man sich an der äußersten Grenze des alterslosen Alters, wenn die Sättigung und Müdigkeit alle anderen Empfindungen übertraf, freiwillig in jenes Institut begeben, das der Wintergarten hieß. Man merkte es nicht einmal, wenn Tiere starben. Für Hunde und Katzen gab es eine Dependance des Wintergartens. Die Hunde hatten sich seinerzeit rasch dran gewöhnt, die Katzen weniger. Oh, diese unselig-undankbaren Katzen! Sie hatten sich weit hellsichtiger erwiesen als die astromentalen Menschen und zur rechten Zeit ihren Exodus unternommen.
    Es dauerte eine Zeit, bis das Bewußtsein des Geschehenen alle Ränge des Theaters durchlaufen hatte. Die improvisierenden Autoren, Dichter und Komponist, ganz verfangen in ihre schöpferische Tätigkeit, schienen nicht einmal den krachenden Schuß gehört zu haben. Die Szene lief noch länger als eine Minute weiter, ehe die visionären Kulissen verblaßten, die Wirklichkeit der Schauspieler ihre Kostüme und Masken durchbrach und die verzerrte Musik in unserm Innern verstummte, während dieser oder jener Musiker sein Attrappeninstrument noch immer mit Vibrato spielte. Der Sympaian nahm kein jähes Ende. Es war ein zerfasertes, zerfranstes Ende, wodurch die Pause tiefen Schweigens, die dem letzten ins Leere ausrutschenden Klange folgte, nur noch schrecklicher wurde. Und dann kam jener Aufschrei aus dreitausend Kehlen, ein kleiner, kurzer, nicht sehr lauter, aber ganz und gar hysterischer Schrei, der verriet, wieviel Angst und Grauen noch immer in der abgeklärten Menschenseele lebte. Was auf diesen Aufschrei mit Naturnotwendigkeit hätte folgen müssen, und in meinem Jahrhundert auch gefolgt wäre, war Panik. Nach einem winzigen Schwanken der Waage aber folgte etwas ganz andres. Die mentale Disziplin, die in einem verfeinerten Individualismus wurzelte, widerstand der Versuchung zum Massenwahnsinn. In einer neuen tiefen Schreckensstille verhüllten die Menschen einer nach dem andern mit den weiten dehnbaren Schleiern, die sie als Gewänder trugen, ihre Häupter. Das war eine überaus antike, sublime Gebärde, obwohl sie nicht Trauer oder Ehrfurcht vor dem Tode zur Ursache hatte, sondern die unaussprechliche Scheu dieser Menschen vor dem Anblick vergossenen Blutes und der Toten, ein Anblick, der nur wenigen in jeder Generation zuteil wurde. Ich freilich, in meinem Frack, konnte ebensowenig mein Gesicht verhüllen wie B. H. in der Felduniform das seine. Nur einer stand noch unverhüllten Hauptes neben uns und ertrug tapfer das entstellte Bild des Getöteten, der im Winkel der Loge zusammengesunken lag. Es war Io-Fagòr, gelb wie Wachs. Er drückte den Kopf Lalas, die sich zu ihm geflüchtet hatte, leicht an seine Brust. Langsam, ja feierlich begann das Haus des Sympaians sich zu leeren, ohne daß die Stille auch nur durch einen einzigen hörbaren Atemzug unterbrochen wurde. Wir aber, B. H., ich und die Familie Io-Fagòr, warteten, bis eine Gruppe von Mutarianern sich lautlos näherte und mit der übersinnlichen Sicherheit, die sie durch die Aufopferung ihrer Sinne gewonnen hatten, den Leichnam ihres Bruders aufnahmen und davontrugen. Die Mutarianer nämlich kannten den Tod und die Toten. Sie, wie selbstverständlich die Priester und Ordensbrüder der Kirche, so auch die Chronosophen aller Lamaserien und sonst noch einige Eigenbrötler, begaben sich nicht »freiwillig« in den »Wintergarten«, sondern sie erkannten das Sterben und den Tod als gottgewolltes Schicksal an und dienten einander vorher und nachher. Die Kirche übrigens verwarf den Wintergarten, wie sie in den Anfängen der Menschheit die sogenannte Euthanasie verworfen hatte, mit welcher die Ärzte unheilbar Kranken den Weg hinüber zu erleichtern suchten. Die Kirche spendete nur jenen die heiligen Sterbesakramente, die nicht mehr imstande waren, »freiwillig« und »zu Fuß« zu gehen.
    Oben in der sonderbar unfertigen, sternoffenen Eingangshalle

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