Stern der Ungeborenen
wie und wo, aber ich hatte einen Urlaub.« – »Nein, das ist nicht die Hölle.« – »Natürlich ist es nicht die Hölle. Bitte verzeihen Sie mir, lieber Resonanzboden. Wie konnte ich nur so dumm sein? Die Hölle ist viel endgültiger. Ich hatte Urlaub nur aus dem Fegfeuer. Bittschön, kann ich mich vielleicht moralisch noch bessern?« – Keine Antwort. – »Kann ich vielleicht das corpus delicti und die anderen corpora delicti aus dem Wege räumen, die ich selbst vergraben habe, jetzt erinnere ich mich daran?« – »Vergraben heißt ja, schon aus dem Wege geräumt haben!« – »Moralisch bessern aber heißt wieder ausgraben, wie?« – »Recht so: Erkennen. Auf den Weg machen. Suchen. Finden. Ausgraben.« –
Ich habe versucht, das was in dem körperlosen Bewußtsein vorging, und was ich den frei im Raume schwebenden Gewissensbiß nenne, in der Form eines Dialoges darzustellen. Es war aber durchaus kein Dialog. Es war eine Art von Flut und Ebbe, ein rhythmisch atemartiges Hell- und Dunkelwerden in dem bewußten, doch beinahe abstrakten Teile meiner Existenz. Der unbewußte, aber konkrete Teil, jener gewisse Herr F. W., lag weit entfernt, irgendwo nirgendwo. Aber einzig und allein um ihn handelt es sich und um sein Ermordet- und Vergrabensein. Ich glaubte mit immer schärferer Gewißheit zu erkennen, daß ich mich nicht mehr auf Urlaub befand, sondern in die große Absenz zurückgenommen worden war. Diese Absenz war wirklich und wahrhaftig das
Fegfeuer,
wie ich es immer geahnt hatte. Ich war wieder zu dem Zustand zurückgekehrt, den ich während meines Urlaubs ganz vergessen hatte, zu jener dumpfen Unruhe, die sich auf meine Person und ihre Missetaten bezog, die von mir abgetrennt waren. Das also ist das Fegfeuer, dachte ich, der Zustand, von dem die Menschen nichts ahnen, solange sie leben. Das Fegfeuer liegt nicht in den Intermundien und auch nicht im Grauen Neutrum. Es liegt außerhalb des Raumes in seinem eigenen Raum und außerhalb der Zeit in seiner eigenen Zeit. Das Schrecklichste am Fegfeuer war, daß es hier gar keine Ablenkung gab, daß man mit keinerlei Wesen in Beziehung treten konnte, daß es, soweit ich persönlich reden darf, in einer unaussprechlichen Einzelhaft bestand, daß hier der Egozentrismus des Lebens sich in einem jenseitigen Egozentrismus übergipfelte und bestrafte, der jede Gemeinschaft mit andern Existenzen ausschloß. Es gab vermutlich, wie schon Dantes Reisebericht feststellt, viele Arten von Fegfeuer. Da aber das Leben der Seele, was immer es sei, nichts anderes sein kann als Leben, so darf ihm das Hauptprinzip des Lebens nicht abgehn, die Veränderlichkeit. Als Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts hatte ich natürlich ein ganz anderes Fegfeuer zu durchstehn als etwa ein Mensch des vierzehnten Jahrhunderts oder etwa gar einer des Elften Welten-Großjahrs der Jungfrau. Auch war die Einzelhaft, in der ich mich befand, wahrscheinlich nur für bessere Leute bestimmt, für die sogenannte »Intelligentia«, deren zentraler Fehler ja im Egozentrismus besteht. Etwas Gutes aber hatte das Fegfeuer, eine
Chance
, und ich wünschte mir, während ich als Gewissensbiß in der großen Verlorenheit schwebte, ein neuer Swedenborg würde kommen und den Menschen von dieser Chance künden. Ich wußte nämlich plötzlich mit ganz unaussprechlicher Tiefe, daß ich wandern und suchen und finden durfte. Ja, ich durfte nämlich jenen Herrn F. W. suchen gehen, und eine innerste Hoffnung sagte mir: in dem Augenblick, da ich ihn finden und ausgraben werde, wird er nicht mehr tot sein, sondern frei und munter samt allen seinen Opfern. Doch wie ihn finden? Da alles dunkel ist. In welcher Richtung suchen? Da es keine Richtung gibt. Los, sagte ich zu mir, und nun begann ich mich wirklich zu bewegen. Wie, das könnte ich nicht sagen. Schweben war’s lange nicht mehr. Es war auch kein bequemes Gefahrenwerden. Es war ein ewiges Sichhinschleppen, manchmal das Kriechen eines Tausendfüßlers in wegloser Öde, von nichts belebt als von jener Hoffnung. Noch immer glaubte ich zu kriechen, als der milde Strahl schon lange auf meinem Gesicht lag, als ich längst nicht mehr in ein punktartiges Schuldgefühl und jenen fernen, vergrabenen, seiner selbst nicht bewußten Herrn F. W. entzweit war, sondern bestens zusammengesetzt wieder auf dem Ruhebette lag. Wo? In welchem Ruhebett? Bedford Drive? Oder in der Kammer von Madame Pozñanská? Um Gotteswillen, das ist doch längst vorüber. Das war in dem Comptoir des
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