Stern der Ungeborenen
sie nur das Weib dem fremden Manne schenken kann. Die Folge war: ich verlor den Kopf. Ich glaubte, es habe 1920 oder 1930 geschlagen. Ich zog Lala an mich, ich küßte sie und empfing ihren Kuß.
Um dieses Kusses willen muß ich hier leider den Roman unterbrechen, damit ich der Reisebeschreibung gerecht werde. Meine Pflicht gebietet mir ja die wichtigsten Unterschiede zwischen den Anfängen der Menschheit und dieser sehr fernen Epoche festzuhalten. Niemand wird bestreiten, daß der Kuß ein gewiß nicht unwichtigeres Phänomen darstellt als etwa jenes Festmahl nach meinem ersten Erscheinen, dem ich im fünften Kapitel eine so eingehende Schilderung gewidmet habe. Zuvörderst wird es so manchen mit großer Befriedigung erfüllen, daß der Kuß zwischen Mann und Weib von keinerlei Berühungs-Hygiene abgeschafft worden war. Da ich die ganz unerwartete Ehre und das ganz unverdiente, ja schwindelerregende Glück eines Kusses von astromentalem Mädchenmund genossen habe, so darf ich mich billigerweise nicht mit der Schilderung des rein sentimentalen Vorgangs begnügen, sondern muß eine kurze aber besonnene Analyse einschalten. Man war in diesen Dingen zu meiner Zeit eher heftig und unbeherrscht. Als ich aber Lala so unvermutet, so plötzlich in meinen Armen hielt, verging mir die mitgebrachte Heftigkeit schnell. Wiederum, wie so oft, fühlte ich mich, der ich eigentlich das Gespenst war, als den grobmateriellen und brutalen Part in dieser astromentalen Gemeinschaft. Der Mädchenkörper, der in meinen Armen lag, war so geisterhaft, so schwerlos, so seelenzart, so überfeinert, wie es das Auge vorher gar nicht hatte voll erkennen dürfen. So auch war der Kuß nicht wie in der Vor- und Urzeit, ein leidenschaftliches Ineinanderschrauben der Lippen u.s.w., sondern nur hauchzarte, elfenmilde Kaum-Berührung der Münder, die der Seele zu empfinden überließ, was der Körper an direkter Befriedigung sich selbst versagte. Man wird mir den Vergleich vielleicht übelnehmen, im Kuß aber offenbarte sich dasselbe Prinzip, das ich im Hinblick auf die mentalen Säftchen und Süppchen schon auseinandergesetzt habe: die Unterschiedenheit von Materie und Substanz: So viel Substanz und so wenig Materie als möglich. Der Kuß selbst, solange er auch währte, war äußerlich wenig mehr als ein Verschmelzen des Atems, eine Annäherung der leiblichen Grenzen – der seelische Vorgang jedoch, der durch diesen keusch beschränkten Kuß ausgelöst wurde, war so übermächtig, daß ich endlich, eine Ohnmacht fürchtend, mich jäh von Lala losreißen und wegwenden mußte. Ja, ich wandte mich ab und schaute krampfhaft in die leere, falsche Nacht des Fensters, um das Mädchen nicht mehr zu sehen. Obwohl solche Geständnisse und gar bei Personen gesetzteren Alters recht peinlich sind, so muß ich doch bekennen, daß ich buchstäblich an meinem ganzen dubiosen Leibe zitterte. Wenn man noch im neunzehnten Jahrhundert auf die Welt gekommen ist, so mag es zur Not hingehen, daß man als mutiger Mann um 1950 herum ein Mädchen küßt; dasselbe aber im Elfen Weltengroßjahr der Jungfrau zu tun, das ist absurd, das ist gottverboten.
Schon hatte das unsagbare Entzücken dieses Kusses sich in einen logisch brennenden Schmerz verwandelt. Ich warf mich der Länge nach wieder aufs Ruhelager, mein Auge mit aller Kraft wegzwingend von Schön-Lala, damit ich nicht verloren sei. Dafür aber hielt ich ihr eine lange lederne Rede, und alle Gründe, die ich ins Treffen führte, waren ebenso ausgezeichnet wie sinnlos:
»Ich darf Sie nicht ansehen, Lala«, begann ich, weil ich sonst sofort mit Ihnen ginge. Aber darf ich mit Ihnen gehen? Denken Sie nach, bitte. Ich bin zwar nicht freiwillig in das Haus Ihrer Eltern gekommen, in das Haus der Hochzeit. Ihr Kreis hat mich zitiert, ohne vorher bei mir anzufragen, was meine Verantwortung aber nicht ganz aufhebt. Denn auch all das, was einem zustößt, steht mit auf der Schlußrechnung. Ich bin Gast in Ihrem Elternhause, ein entsetzlich fremder, befangener und genierter Gast. Wieweit meine Anwesenheit mit dem geschehenen Unglück zusammenhängt, weiß Gott allein. Ich aber war zu lange drüben in der Absenz, um nicht zu wissen, daß solche Zusammenhänge bei weitem nicht so ausgefallen sind, wie die kleinen, matten, sinnlich abgelenkten Geister so annehmen und wünschen. Das Diesseits ist ja der Schatten, den das Jenseits wirft und nicht umgekehrt. Doch ob nun mein Besuch mit Io-Dos Schuß zusammenhängt oder nicht, es wäre
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