Stern der Ungeborenen
immer in den oberen Etagen des Erdhauses. Wie lange Zeit die Niederfahrt in Anspruch nahm, konnte ich nicht wissen, da ich viel zu spät bemerkte, daß wir uns überhaupt in Fahrt befanden. Auch hatten wir kein federleichtes Schutzkleid angelegt wie jenes Raumtauchergewand, mit welchem wir das Kleine Intermundium besucht hatten. Der Mangel aller Vorbereitungen täuschte mich darüber hinweg, daß wir schon lange zu dem Ausgangspunkt unseres Endes niederschwebten. Wahrscheinlich hatte mir B. H. mit weiser Absicht den Zweck der Räumlichkeit nicht verraten, die alle Welt »camera caritatis« nannte. Im übrigen bin ich nicht ganz sicher, ob der außerordentlich große Salon, zu dem wir über einen langen Korridor gelangten, wirklich camera caritatis hieß. Manchmal will es mich dünken, daß der kreisrunde Raum mit fächerartig abgeteilten Logen nicht als »Kammer des Erbarmens«, sondern als »Kammer der Gleichheit« bezeichnet wurde, d.i. camera paritatis. Mich erinnerte er teils an das Wartezimmer eines erfolgreichen Kurpfuschers, teils an ein Schönheitsinstitut. Die abgeteilten Logen waren für Ehepaare bestimmt, welche die letzten Stunden des Lebens einander nahe sein wollten. Die camera caritatis – bleiben wir bei diesem Ausdruck – war bei unsrer Fahrt so sehr überfüllt, daß niemand dran denken konnte, intime Gespräche zu führen. Daß Io-Fagòr nicht der einzige Hausvater war, der mit den Seinigen diesen schweren Entschluß gefaßt hatte, das ließ sich wohl denken. Die camera caritatis dient nämlich nicht nur einem Hause zum Transport, sondern einer gewissen Anzahl von Häusern, ich weiß nicht wie vielen, welche eine »Nachbarschaft« bildeten, worunter man die kleinste Einheit des städtischen Gemeinwesens verstand. In unserm runden Salon drängten und drückten sich siebzig bis achtzig Leute in Festgewändern, während Ruheplätze nur für etwa zwanzig vorhanden waren. Die Frauen, auch die ältesten, waren in die taubengrauen Schleier ihrer Brautzeit gehüllt, denn altertümlich sinniger Weise war die Hochzeitskleidung für den letzten freiwilligen Gang bei Mann und Frau vorgeschrieben.
Auch unsere Ahnfrau machte keine Ausnahme von dieser Regel. Das bläuliche Taubengrau stand ihr vortrefflich, und der ebenholzschwarze Helm an Stelle des silbernen Kopfaufsatzes ließ sie noch jünger erscheinen, wenn das überhaupt möglich gewesen wäre. Ich erlebte mit ihr eine kleine Szene, die mir vorerst nicht weiter bedeutsam vorkam, obwohl sie es wahrhaftig ist. Die Ahnfrau und ich waren die letzten, die in die camera caritatis eintraten. Hinter uns stand nur noch Io-Fagòr, das Haupt der Sippe, der die Seinen zählte, ob jemand etwa noch zurückgeblieben sei und man auf ihn zu warten habe. Während Io-Fagòr, also beschäftigt, aufmerksam durch den offenen Eingang blickte, forderte GR 3 mich mit einem energisch-ärgerlichen Augenwink auf, ich möge doch endlich eintreten. Ich wehrte mich natürlich, vor einer Dame, und gar vor einer so erlauchten und würdigen Dame des ancient régime durch eine Tür zu gehen, und unterstützte meine Weigerung mit einer überflüssig galanten Geste, mittels welcher ich die Ahnfrau in die camera caritatis hineinkomplimentierte. Niemals hat ein Blick von feindseligerer Verzweiflung mich getroffen als jener, der jetzt aus den tiefliegenden Augen der zierlichen Uralten stach. Ich war ganz bestürzt, wußte ich doch nicht im mindesten, was ich mir hatte zuschulden kommen lassen. Als die Tür des Salons nach Verabredung verschiedener Hausväter unter allerlei Zeremonien und Vorsichtsmaßnahmen mit mehreren großen Riegeln abgesperrt worden war, da glaubte ich, es handle sich hier um eine geheime Versammlung, in der man uns darüber aufklären würde, was wir zu erwarten hätten und wie wir uns verhalten sollten. Nichts aber dergleichen geschah. Kein Mensch hielt eine belehrende Rede. Io-Rasa, die jetzt so strahlend schön war wie ihre Tochter Lala, wenn auch schön in unsagbarer Traurigkeit, ergriff die Hand ihres Gatten und ließ sie nicht mehr los. Auch ihre blauen Augen waren groß und feucht und gaben die Augen Io-Fagòrs nicht frei. Bei so viel Jugend war der Gedanke des Endes völlig absurd. Auch die andern Paare taten wie Io-Fagòr und Io-Rasa. Die meisten schwiegen. Das genossene Leben schien an ihnen vorüberzuziehen. Man konnte es beinahe wie Wolkenschatten an den hellen glatten Stirnen dahingleiten sehen. Weniger ruhig zeigten sich sonderbarerweise die
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