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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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stehenden Schlaf.
    »Merkst du das erst jetzt«, gähnte er, »du alter Kometenturner und Bewegungsspezialist? Wir fahren schon beinahe seit einer Stunde mit der beschleunigten Fallgeschwindigkeit eines Körpers im luftleeren Raum. Ja, ja, die prächtigen Schächte sind hermetisch luftleer, und es dürfte bereits Mittag sein …«
    Es gelang mir nicht, eine kleine Ohnmacht zu überwinden.
    Glücklicherweise fiel ich nicht um, sondern lehnte mich gegen B. H.’s Brust, der erschrak und mir fürsorglich den Schweiß von der Stirn wischte. (Bald wird sich unser Verhältnis umdrehen, und ich werde für ihn die Fürsorge übernehmen müssen.) Als die camera caritatis so unmerklich still stand, wie sie sich bewegt hatte, wurde mir sofort wieder gut. Man öffnete die abgeriegelte Tür. Luft strömte herein, die ich in den ersten Minuten als kühl und frisch empfand. Meine Natur erholte sich schnell und mit ihr auch die Neugier, die das siegreichste Zeichen voller Vitalität ist. Als wir aus der camera caritatis hervortraten, wich das helle Licht der Dämmerung eines späten Herbstnachmittags. Ich hatte einen bergwerkartigen Raum erwartet. Wir befanden uns aber in einer weiten Landschaft.
    Es war ganz zweifellos eine traurige herbstdämmerige Landschaft in der Nähe, ja fast am Rande einer großen Stadt. Was wir von dieser Stadt vor uns sahen und wohin der Weg führte, den wir freiwillig und zu Fuß zurückzulegen hatten, ähnelte am ehesten den riesengroßen Bahnhöfen, die man zwischen 1930 und 1940 in »moderner Architektur« errichtet hatte. Es war jedenfalls ein zwei- oder dreistöckiger Hochbau mit symmetrisch wiederholten viereckigen Türmchen, die sich unabsehbar weit ins graue Land erstreckte. Dies mußte der Wintergarten sein, der vielleicht noch zwei Kilometer, wenn nicht mehr von uns entfernt lag. Rechts und links zur Seite der Straße, auf der wir gingen, doch etwas ferner gerückt, sah man nacktes, hügeliges Gelände. Vielleicht aber waren es gar keine echten Hügel oder Bodenwellen, sondern nur Aufschüttungen aus Kohle, Schlacke, Gesteinsbrocken und Asche. Jedes Kind meiner eigenen Zeit hätte auf den ersten Blick gedacht, es sei da in eines der großen Industriezentren geraten, nach Pittsburg, nach Witkowitz oder ins Ruhrgebiet, wo man gerade feiertagswegen die Arbeit eingestellt hatte. Dies jedoch war nur die Illusion eines ersten Blicks. Es regnete leicht. Man konnte das warme, leise Nieseln eigentlich nicht Regen nennen. Den Astromentalen aber auf ihrem letzten Wege schien das schlechte Wetter einen gewissen Spaß zu machen, hatten sie es doch dort oben unter ihrem ewig blauen Himmel nur selten genossen. Da wir schon vom Himmel sprechen, will ich sogleich gestehen, daß auf mich der weite dicke Wolkenhimmel über dieser Landschaft den fremdartigsten Eindruck machte. Welch ein Wolkenhimmel, wird man fragen, im Innern der Erde? Ich gebe zu, daß der Ausdruck Himmel falsch ist, obwohl ich nie und nirgends einen höherschwebenden Wolkenhimmel oder, wenn man will, eine ferner gerückte Wolkendecke gesehn habe als hier unten. Das ist auch leicht zu erklären, da zwischen unsern Augen und dem Gewölk oder dem Dampf in der Höhe ein Abstand von mehr als hunderttausend Metern lag, während die Regen- und Gewitterwolken in der freien Natur sich meist schon tausend Meter hoch über der Erde zusammenballen. Kein Wunder also, daß wir einen besonders hohen Himmel über unsern Köpfen zu haben schienen, hier in der Tiefe. Der Hohlraum, in dem wir dahinschritten, schien in jeder seiner Richtungen unendlich zu sein, wie die Erde oben. Er wirkte als eine absonderliche, tragische Landschaft. Man hörte von allen Seiten ein leises dumpfes Rauschen, wie von fernen Wasserfällen oder Stromschnellen. Es müssen die Kräfte sein, dachte ich, die einander in Balance halten, damit diese Erdkammer nicht einstürze. Das Licht, das uns nicht nur erlaubte, einander zu erkennen, sondern auch in die Ferne zu sehen, glich ungefähr der Tagnacht oder dem Nachttag auf Apostel Petrus. Von dort, wo die Baulichkeiten sich erhoben, die ich mit einem Riesenbahnhof verglichen habe, stieg energischere Helligkeit auf, die ins Bläuliche spielte, während im Hügelland ringsum es manchmal rot aufschwoll.
    An beiden Seiten der tadellos geglätteten Straße liefen niedrige Steingeländer entlang. Ich mußte erst dicht herantreten, um zu erkennen, daß die Straße, die zum Wintergarten führte, keine Straße war, sondern eine schier endlose

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