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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Brücke. Man sah in schwindelnde Tiefen hinab, wo der schwarze Boden schwerflüssig zu wogen schien. War es Sumpf? Oder war es plastilinartig ungefestigte Erde? Wir kamen bald zu einer Stelle, wo in der Tiefe unter der Brücke ein ziemlich breiter Lavafluß langsam dahinrückte; von ihm stammten die rötlichen Wallungen des Lichts her, die manchmal über die Landschaft flammten.
    »Aber das ist ja der Pyriphlegethon«, sagte ich und lachte mit kindischem Lachen B. H. an. Auch B. H. lachte mit kindischem Lachen mich an. Wie freuten wir uns beide, daß die griechische Mythologie unserer Schulzeit kein leerer Traum war. Wir sahen nun den Pyriphlegethon, den Feuerfluß des Hades mit unsern eigenen alten Augen. Und es war ein großer Beweis dafür, daß Homer und Vergil und kein andrer Dichter und Prophet etwas erfinden konnte, was nicht wirklich da war und da ist.
    Diese kleine humanistische Herzerwärmung half mir über manches hinweg. Ich gestehe, daß eine kleine gelehrte Eitelkeit meine Seele erfüllte, die imstande war, das Älteste und Modernste in Einklang zu bringen und in der Umgebung des astromentalen Wintergartens, wo der Tod überwunden wird, den Pyriphlegethon, den Styx und den Cocytus wiederzuerkennen, lauter leere Worte für solche, die nicht mehr in die humanistische Schule gegangen sind. Im Wiedererkennen, das heißt in der Feststellung, daß das Urälteste das Erzmodernste ist, liegt eine tiefe Befriedigung unseres Geistes und eine der ewigen Wurzeln des Konservativismus. Es zeigte sich bald, daß der Aufenthalt hier in der Tiefe der menschlichen Natur so wenig angepaßt war, daß unsere Körper von Schritt zu Schritt matter wurden. Die Luft, die wir atmeten, schien unsern Lungen nicht zu genügen. Eine merkwürdige Sehnsucht wuchs in uns groß, so schnell wie möglich in den Wintergarten zu kommen und dort der Ruhe zugeführt zu werden, welche Form diese Ruhe auch immer haben mochte. Wenn unser Zeit- und Raumsinn auch nicht verwirrt war wie im Grauen Neutrum, so befanden wir uns doch außerhalb der gewohnten Dimensionen, im Innern des Planeten, in einem der Hohlräume, welche die ausgeschleuderte Mondmasse zurückgelassen haben sollte.
    Die Brücke, auf der wir dahinschritten, war recht belebt, doch es herrschte kein besonderes Gedränge. Ich hatte vorhin gesehn, daß es viele solcher Straßen oder Brücken gab, die von allen Seiten ober- und untereinander zum gewaltigen Knotenpunkt führten.
    Die einzelnen Gruppen oder Sippen trollten sich schweigend des Weges, auch die unsrige. Eine leichte Betäubtheit, eine Art von Somnolenz hüllte jede einzelne Person ein und machte sie einsam. Nicht einmal Sur plapperte, sondern schlich ganz niedrig dahin, den Bauch am Boden schleppend. Der freiwillige Weg, den man zu Fuß zurücklegte, war kürzer, als ich zuerst gedacht hatte. Schon näherten wir uns dem, was ich ganz willkürlich als Stadt oder Bahnhof bezeichnet habe. Rechts und links von der Straße tauchten große Tafeln mit extensiven Leuchtschriften auf. Es waren auf diesen Tafeln aber keine Entfernungen, Richtungen oder Ortschaften verzeichnet, sondern in großartiger Monotonie immer wieder die folgenden zwei Fragen:
    »Wovor fürchtest du dich? Hast du dich gefürchtet, geboren zu werden?«
    Je mehr wir uns dem Gebäudekomplex näherten, um so dichten wurden diese Schrifttafeln, unter welche sich auch einige mit folgender Weisung mischten: »Vertraue dem Animator und seinen Badedienern!«
    Zugleich tauchten auch weißgekleidete Männer und Frauen auf, die müßig am Brückengeländer lehnten und den Vorüberziehenden keinen Blick zu schenken schienen. In ihren weißen hochgeschlossenen Kitteln, die nicht aus Schleierstoff hergestellt waren, sahen sie den praktizierenden Ärzten und Krankenschwestern der Vorzeit ziemlich ähnlich. Was mir aber auffiel, zumal an den Männern, sie waren höher gewachsen als der astromentale Durchschnittstypus und boten einen dicken, schlaffen, geschlechtslosen Anblick. Die Folgen der sehr ungesunden Lebensverhältnisse hier unten im Tartarus, im Totenreiche, so dachte ich. Io-Fagòr, der an unserer Spitze ging, blieb stehn, wartete auf mich und belehrte mich mit unterdrückter Stimme:
    »Es sind die Nummernzähler, Seigneur.«
    Ich bemerkte, daß meine Zunge schwer war und daß es mir Mühe machte, zu sprechen:
    »Was bedeutet das, ›Nummernzähler‹, Compère?«
    »Jedes Io, das diesen Punkt erreicht hat, wird gezählt, numeriert und ins Buch eingetragen.«
    »Das

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