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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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gefällt mir gar nicht«, grollte ich. »Ich hatte angenommen, die mentale Kultur habe die Statistik überwunden …«
    »Es ist die einzige Statistik, die es gibt, Seigneur.«
    »Und zu welchem Zwecke werden wir schon auf offener Straße numeriert wie Gepäckstücke?«
    »Wollen Sie gütigst bemerken, Seigneur, daß diese Straße nur in einer Richtung benutzt wird«, sagte Io-Fagòr merkwürdig rauh.
    Ich aber fragte, bittern Geschmack niederschluckend:
    »Wo bleibt dann die ganze hehre Freiwilligkeit, Gevatter?«
    »Auch unsere Denker, Erfinder und Gesetzgeber mußten mit Menschen rechnen, mein Freund«, sagte Io-Fagòr. »Und welcher Mensch würde im letzten Augenblick nicht zurückschrecken vor dem, was unsere höchste Errungenschaft ist? Sie selbst haben ja Sophistes Io-Sum preisgekrönt, der, in unserm Willen, lieber zu sein als nicht zu sein, Gottes Liebe feststellt. Der Mensch muß demnach in sich sogar Gottes Liebe überwinden, um reinlich und anständig aus der Welt zu scheiden. Ihnen, Seigneur, wird es gewiß leichter fallen als einigen von uns. Und damit die Schwachen nicht fahnenflüchtig werden und abscheulich zu Grunde gehen, darf diese Straße nur in einer Richtung benützt werden …«
    In Io-Fagòrs Worten klang beinahe eine drohende Schwingung mit. Ich erkannte sofort, daß die Idee des Wintergartens in Io-Fagòr und seinesgleichen den Platz des religiösen Fanatismus einnahm, des einzigen, den sie kannten. In diesem Punkte waren die Hochmentalen vermutlich nicht anders als Derwische und Feueranbeter. Was in den Gebäuden, die jetzt schon dicht vor uns lagen, sich ereignen sollte, wußte ich noch nicht. Ein Umweg um das Sterben war es jedenfalls. Diesen Umweg hielt Io-Fagòr für die höchste Errungenschaft der fortgeschrittenen Menschheit. Obwohl ich völlig bereit war, den Umweg als Ausweg zu benützen, fühlte ich mich doch in der Falle.
    »Jeder Zwang ist terroristisch«, stieß ich hervor, »selbst der Zwang zum Glück.«
    Niemand hatte mich gehört, nicht einmal B. H. Wir standen nämlich vor dem Portal, das uns zugewiesen war. Es gab wahrscheinlich mehr als hundert solcher Portale, denn unendlich zog sich die Front der Gebäude hin. Unser Torbogen trug folgende Inschrift: »Das, was du bist, ist schon Lohn und Strafe für das, was du bist.«
    Im nächsten Augenblick befanden wir uns in einem Raum, der in nichts an den erwarteten Bahnhof gemahnte, sondern in hohem Grade der Halle eines kostspieligen Hotels oder eines Sanatoriums für verwöhnte Nervenkranke entsprach. Ich war sonderbar auf der Hut. Mich durchdrang ein ausgesprochener Kampfwille, als bereite ich mich nicht zu meinem Ende vor, sondern sei willens, was ich ganz und gar nicht war, mein dubioses Leben zu verteidigen. Weißbekittelte Gestalten begrüßten uns mit entwaffnender Freundlichkeit, ja mit heiterer Wärme wie alte Bekannte. Mir als »Seigneur« wurde sogar eine überschwängliche Aufmerksamkeit zuteil. Ich spürte aber sofort, daß der gute behagliche Empfang einen bestimmten Zweck hatte. Alles sollte hier schnell gehn, ehe man recht zur Besinnung kam. Während man einander anlachte und ankomplimentierte, wurden Herren und Damen und vorzüglich die Ehepaare unmerklich voneinander getrennt. So betrog man sie über den Schmerz des Abschieds hinweg. Obwohl mein Kopf schwer von der schon erwähnten Somnolenz war, hatte ich sofort den eisernen Beschluß gefaßt, mich von B. H. nicht trennen zu lassen. Alle schlauen Versuche der Weißbekittelten schlugen fehl. Ich forderte und erreichte, daß man meinem Freunde und mir ein gemeinsames Zimmer anwies. Dieses Zimmer mit seinen gefährlich weichen Ruhelagern war luxuriöser als alle Räume im Hause Io-Fagòrs.
    »Wir werden wieder einmal versuchen, nicht zu schlafen, B. H.«, sagte ich hart.
    Er sah mich an und nickte mit halbgeschlossenen schwimmenden Augen.
    Ich hatte meinem Freunde verboten, sich hinzulegen. Er saß auf seinem Lager in überaus gebrochener Linie, den schweren Kopf in die Hände gestützt. Mein Kopf war zweifellos nicht minder schwer als der seine. Um gegen die Somnolenz anzukämpfen, ging ich aber mit starken Schritten auf und ab in unserm geräumigen Zimmer und redete mit lauter Stimme:
    »Niemals im Leben hat es ein Hypnotiseur fertiggebracht«, so prahlte ich, »mich in Schlaf zu versetzen. Einmal, ich erinnere mich genau daran, wäre es mir beinah gelungen, den Hypnotiseur zu hypnotisieren. Du weißt es ja genau, B. H., daß übertriebene Willenskraft

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