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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Maître, erschreckt mich die gefährlichste Kombination, die es gibt, Fanatismus und intellektuelle Verbohrtheit. Ihresgleichen sind mir seit hunderttausend und mehr Jahren wohlbekannt, von Torquemada bis zu den Rasseärzten der Gestapo mit ihren Mordspritzen … Übrigens kann ich Ihnen nicht helfen, ohne selbst ins Leichte Wasser zu steigen …«
    »Werfen Sie mir die Nabelschnur zu, Seigneur!«
    »Von welcher Nabelschnur reden Sie?«
    »Die grüne Nabelschnur, die Ihnen die Ammen zugesteckt haben, diese verfluchten Zellteilerinnen und Häklerinnen …«
    Bei diesen Worten erst merkte ich, daß ich den langen Strickstreifen jenes unglücklichen Mädchens (ich weiß übrigens nicht, ob sie subjektiv eine Unglückliche ist) wie einen Gürtel um meine Hüften gewickelt hatte. Ich wandte mich mit innerer Begeisterung an meinen Freund:
    »Hörst du, B. H.? Er nennt die Handarbeit der Ammen Nabelschnur? Das ist wunderbar. Das Ewigweibliche zieht uns hinan und heraus …«
    »Wird’s endlich, Seigneur«, rief der Animator mit sonderbar enger Stimme, »wird’s endlich? Worauf warten wir noch?«
    »Ich wundere mich, Maître, daß Sie nervöser sind als wir. Was kann Ihnen das Leichte Wasser anhaben? Ihre Erinnerungen bestehen ja nurmehr aus schrumpfenden Embryos …«
    »Nichts kann uns das Leichte Wasser anhaben«, tönte es zurück, frierend, leise, ja beinahe piepsend.
    In diesem Augenblick zeigte es sich, daß es zu spät war. Von der Ferne rauschte es näher und näher. Die Abzugskanäle hatten sich zweifellos mit den Wassern der Stauteiche gefüllt und schwemmten nun die Kataboliten ins Mnemodrom. Wir sahen im Nebel, wie die Oberfläche des Sees zu wallen begann und wie sein Spiegel sichtbar stieg. Der Animator und sein Helfer wurden langsam vom Ufer fortgezogen. Wir hörten keinen Laut mehr von ihnen. Ob das Wasser, das nicht naß macht, über ihnen zusammenschlug, das kann ich nicht sagen.
    In dem Zeitraum, der zwischen dem Verschwinden des Animators weit draußen im Nebel des Mnemodroms und unserer Wiederbegegnung mit der Ahnfrau liegt, geschah recht vieles und äußerst Strapaziöses. Die Frage, wie groß dieser Zeitraum war, kann ich nicht beantworten, da es ja bekanntlich im Hohlraum keine Zeiteinteilung gab, sondern nur gestaltlose Dauer, das heißt ein wurmartiges peristaltisches Nacheinander von Augenblicken, die Geschehnisse, Gespräche, Gefühle umkapselten. Man verlor hier den Zeitsinn, nicht ganz genau so, aber ähnlich wie man im Grauen Neutrum den Raumsinn verlor. Nur an der Erschöpfung unseres Körpers konnten wir dann und wann ahnen, wie lange wir schon kämpften. Diese Uhr aber war ziemlich unsicher, denn die Müdigkeit kam in Wellen und wechselte ab mit Perioden merkwürdigster Energie. Erst oben, als wir den Grauen Rasen unter unsern Füßen und die Sterne der dritten Nacht über unserm Scheitel hatten, erfuhren wir, daß unser Aufenthalt im Hohlraum des Wintergartens ungefähr zehn Stunden gewährt hatte. Meinem Gefühl nach hätte es viel länger sein müssen. Ich bemerke soeben, daß der Romancier in mir an dieser Stelle gerne zurücktreten möchte, um dem trockenen Reisebeschreiber das Wort zu überlassen. Das ist besonders abwegig, da es sich gerade an dieser Stelle um Flucht und Verfolgung handelt, um eine Situation also, die von altersher für jeden Epiker ein wahres Paradies bedeutet. Ich aber habe beschlossen, gerade hier die Erzählung abzukürzen und über die nächsten Ereignisse flüchtig hinwegzugleiten. Warum diese Resignation? wird man fragen. Warum verschmähen Sie die Gelegenheit, es Ihren Lesern einmal ein bißchen leichter zu machen? Warum? Weil ich mich schäme. Ich habe meine Leser so hoch gehalten, wie es nur ging. Ich habe bei ihnen geistige Leidenschaften vorausgesetzt und eine unbändige Neugier nach Erkenntnissen, Erlebnissen und Empfindungen, die jenseits des zwanzigsten Jahrhunderts liegen. Es widerstrebt mir daher moralisch und stilistisch, die materielle Spannung, die sich mir bietet, zu benützen, um zum Schaden der geistigen Untersuchung die nächsten Ereignisse breit auszuspinnen.
    Niemand wird daran zweifeln, daß wir uns nochmals verirrten und daß wir auf Trottoirs roulants aufsprangen, die uns in falsche Richtungen brachten. Daß wir mehrere Schollenacker mit Rübenmännchen zu passieren hatten, das bedeutete eine schier unerträgliche Belastung unserer Nerven. Auf einem dieser Äcker besaßen die Rübenmännchen die Körperkraft, sich von ihren

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