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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Nachkommen, das waren zusamt Ovetten, die vor Lebensschwäche zitterten …«
    »Sie aber wären dann allein im Hause geblieben und ausgesetzt den wohlgezielten Depressionen und Erfüllungsenttäuschungen …«
    »In meinem Alter?« lachte sie kurz auf. »Alle meine Enttäuschungen sind erfüllt, alle meine Erfüllungen sind enttäuscht. Ich fürchte keine psychische Artillerie …«
    »Höre ich recht«, rief ich aus. »Auch Sie sind eine Widerspenstige, Madame.«
    »Sie sind zu kühn«, wies sie mich mit Hoheit zurück. »Ich adoriere den Wintergarten und werde ihn aufsuchen, wenn es soweit ist. Aber noch ist es nicht soweit …«
    »Man ist so jung, wie man sich fühlt«, stammelte ich verlegen, »so sagte man zu meiner Zeit …«
    »Nein, man ist so jung, wie man
ist.
« Und bei diesen Worten funkelten ihre alten versunkenen Augen. Ich fand mit Bewunderung wiederum eine der wichtigsten Erfahrungen der fortgeschrittenen Menschheit bestätigt, die Erfahrung von der heterochronen Zeit. Jedes Jahr bedeutet für jeden Menschen ein anderes Lebensmaß, für den einen ein größeres, für den anderen ein kleineres.
    »Dort oben, Madame«, sagte ich, »sind Sie jetzt allein, ohne Familie, ohne Pflege …«
    »Allein ist man immer«, versetzte sie streng. »Dort oben aber lebt das Beste, was aus mir kommt …«
    »Sie sprechen von Lala, dem Kindchen. Die gehört jetzt ganz und gar dem Sieger:«
    »Sie haben Ihr Glück verspielt, Seigneur … Oh, Sie wissen noch immer nicht, wo der Mensch beginnt …«
    »Und wo beginnt der Mensch, Madame?«
    »Der Mensch beginnt damit, genau dort und genau damit, daß er keine Sorge hat …«
    »Keine Kleinigkeit«, murmelte B. H. dazwischen.
    Wahrhaftig! Keine Kleinigkeit. Die Persönlichkeit dieser astromentalen Greisin beugte mich fast nieder. Am erstaunlichsten war, daß ihr nicht einmal die Bruthitze des Hohlraums etwas anzuhaben schien.
    »Haben Sie bedacht, Madame«, fragte ich, »daß inzwischen vermutlich eine neue Welt entstanden ist, eine neue historische Epoche, die Ihnen fremd und unbequem sein könnte …«
    Sie sah mich starr an:
    »Fremd? Darauf bin ich ja besonders neugierig.«
    »Neugierig«, wiederholte B. H. begeistert, als sei er froh, mir endlich wieder etwas bieten zu können.
    »Ich bin stolz, Madame«, sagte ich, »daß Sie mit uns zurückkehren werden, wenn Gott hilft …«
    »Wenn jemand zurückkehrt«, wies sie mich zurecht, »so werden die Herren mit mir zurückkehren …«
    Sie erhob sich leicht und arrangierte mit der Gebärde der Weltdame ihren Faltenwurf.
    »Die Ablösung«, rief sie, die Augen zum Eingang wendend.
    Der Name des Ordens »Brüder von kindhaften Leben« hatte mich, als ich ihn auf der Wand unseres Zimmers im Wintergarten zum ersten Male las, nicht nur mit Staunen, sondern sogar mit einer leichten Bedenklichkeit erfüllt. Zweifellos war der Name in den Worten Christi begründet: »Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder u.s.w.« Wieder zum Kind werden aber heißt, wieder in voller Gegenwärtigkeit leben, ohne Vorher und Nachher, eine Dimension, die der Erwachsene nicht kennt und die ein irdisches Abbild der göttlichen Zeitlosigkeit ist. Deshalb sagt Christus in jenen Worten, der Mensch könne nicht göttlich werden, ehedem er wieder wie ein Kind ist. Das war die tiefe Bedeutung des »kindhaften Lebens«. Zugleich hörte ich in diesem Begriff etwas mitschwingen, was auf das Jahrhundert zurückzuführen war, dem ich selber angehörte, und seinen Skeptizismus. Ich hatte damals eine gewisse frömmelnde Kindlichtuerei kennengelernt, die sich im Vollbesitze Gottes wähnte, weil sie den Intellekt verachtete. Christus aber sagt nicht, wir sollen Kinder sein, sondern wir sollen werden
wie
die Kinder. Er fordert eine neue Kindheit.
    Es war die angenehmste Enttäuschung. Keine Spur von frömmelnder Kindlichtuerei konnte man an den zwölf Burschen bemerken, die heiter und wohlgelaunt sich jetzt im Eingang dieser Schutzhütte drängten. Ich sage unehrerbietig »Burschen«, obwohl es sich um Mönche handelte, die ähnlich aussahen wie unsere Kapuziner. Aber ihre ganze Arbeit war so lustig unmönchisch, daß wir das Wort »Burschen« ganz unabsichtlich in die Feder kam. Im übrigen könnte kein Schriftsteller die Weisheit und Tiefe frei erfinden, mit welcher die Kirche hier in der Unterwelt auf dem
ihrigen
beharrte. Der Rückentwicklung des Menschen zum Embryo setzte sie entgegen die Idee der ewigen Kindheit, indem sie die Betreuung des

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