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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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entdeckt, und eine Meute eloquenter Zerberusse werde nun gegen uns losgelassen. Wir begannen über die Lederkissen zu laufen wie die Wilden, was doch, waren wir entdeckt, keinen Sinn gehabt hätte. Da wurde der Boden plötzlich hart. Wir sahen vor uns eine hangartige Baulichkeit aus einer rötlichen Masse. Ich konnte aber eine ganze Weile nichts unterscheiden, denn Schweiß und der ewige Nieselregen des Hohlraums liefen mir in die Augen. Das erste was ich nach einer Weile sah, war die Aufschrift: »Frisches Quellwasser«. Und da sprudelte es auch aus einem altmodischen Holzrohr in eine Brunnenschale. Der Trunk, der unerwarteterweise eiskalt war, brachte sogar B. H. zu sich.
    »Ich kann wieder leicht reden«, sagte er mit erstauntem Ton.
    »Und ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, B. H.«, sagte ich.
    Das rötliche, hangartige Gebäude vor uns schien eine Kombination zwischen einer Labestation und einer Kapelle zu sein. Über dem romanischen Portal standen die Worte: »Sanctae Illusioni«.
    »Heilige Illusion?« fragte ich, »kennst du eine Heilige dieses Namens?«
    »Aber natürlich, F. W., es ist die Lieblingsheilige des Ordens vom ›kindhaften Leben‹.«
    »Du mußt mir nicht antworten, wenn es dich anstrengt …«
    »Nein, nein, es ist doch herrlich, wieder die Zunge frei zu haben …«
    »Hat diese Heilige immer Illusio geheißen?«
    »Wo denkst du hin? Das ist der Klostername, den sie angenommen hat, F. W.«
    »Und wer war sie wirklich?«
    »Ein Mädchen, das Io-Ha hieß und durch einen chemischen Unfall ihr Gesicht verloren hatte. Alles, Augen, Nase, Lippen. Die fröhliche Heiligkeit ihrer Seele aber war so groß, daß sie für jeden, der sie ansah, unerschöpflich aus sich selbst ein neues Gesicht hervorentwickelte, ununterbrochen. Und jeder, der sie erblickte, hielt sie für die größte Schönheit der Welt.«
    »Ich verstehe die Brüder vom ›kindhaften Leben‹«, dachte ich laut. »Es ist sehr tiefsinnig von ihnen, daß sie dieser Heiligen gerade hier eine Stätte errichteten, hier im Angesicht von Retrogenesis und Analysis …«
    Die Erscheinungen ad ovum zurückführen, alle Achtung, wenn’s dabei auch Kataboliten setzt. Aber ein herrliches Gesicht haben, wenn man gar kein Gesicht hat, das ist mehr, das ist des Menschen Göttlichkeit. Sancta Illusio, ora pro nobis.
    Wir traten durchs Portal in die gewölbte Halle, die von frischer Luft und zartem Frühmorgenlicht erfüllt war, das uns nach so viel regnerischer Herbstdämmerung außerordentlich erquickte. Ich hatte vorhin richtig geraten. Die Baulichkeit beherbergte ein Kapellchen und einen größeren Raum, der zweifellos eine Infirmerie war oder mindestens ein Ruhehafen für Erschöpfte. Darauf wies eine Anzahl von Strecksesseln und breiteren Schlafstätten hin, die nebeneinander standen. Auf einem dieser Lager sah ich eine regungslose Gestalt. Es dauerte längere Zeit, denn ich traute meinen Augen nicht, ehe ich die Ahnfrau des Hausers Io-Fagòr erkannte. GR 3 war fest in die taubengrauen Schleier der Brautschaft gehüllt. Der schwarze engsitzende Helm krönte das bildschöne Gesichtchen, in dem nur die Augen etwas tief lagen, die uns mokant musterten. Nicht das leiseste Derangement war Ururgroßmama anzumerken, und das nach so langem Aufenthalt in diesem stygischen Gebiet, das doch bekanntlich ziemlich schmuddelig ist. Sie aber war tipptopp von oben bis unten, duftete leise wie immer nach ihrem unerforschlichen Parfum und schien frischer und ausgeruhter als bei unserer letzten Begegnung. Ihre mentalen elfenbeinfarbenen Händchen lagen blaß neben ihr.
    »Na endlich«, sagte sie.
    »Na endlich, wieso?« fragte ich ganz perplex.
    »Die Herren werden diese unmöglichen Hemden ablegen wollen«, meinte die Ahnfrau und schien mit diesem höflichen Befehl auszudrücken, daß sie uns erkannt hatte und nicht etwa mit Funktionären des Wintergartens verwechselte. B. H. und ich rissen uns gegenseitig die geraubten weißen Kittel vom Leibe, obwohl es vielleicht noch zu früh war, die Maske zu lüften.
    »Ich habe schon geglaubt, es sei die ›Ablösung‹«, sagte die Ahnfrau.
    Das Wort »Ablösung« verstand ich nicht und fragte darum:
    »Sie haben uns hier erwartet, Madame?«
    »Ich erwarte niemand«, sagte sie spöttisch und fügte hinzu: »Sie waren nicht sehr galant, Seigneur, als Sie so galant waren, mir den Vortritt zu lassen.«
    Jetzt ging mir ein Licht auf.
    »Wie konnte ich ahnen, Madame, daß Sie den Familienbeschluß …«
    »Meine

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