Stern der Ungeborenen
erhalten geblieben, eine prüde und fast heuchlerische Sitte übrigens, die angesichts der mangelnden oder überwundenen Leidenschaft auch ihren zwingenden Sinn verloren hatte.
Türen öffneten sich lautlos, und man sah in drei oder vier anstoßende Räumlichkeiten, deren jede von einem warmen, aber anders kolorierten Lichte erfüllt war. Die polychrome Beleuchtung schien in der gegenwärtigen Zivilisation wahrhaftig die Rolle der Haute Couture übernommen zu haben, denn während die lieblichen Figuren meiner neuen Mitmenschen mit ihrem schönschwingenden Schritt sich in den verschiedenen Salons verloren, wurden sie von der jeweiligen Lichtquelle jedesmal neu und andersfarbig kostümiert. Hier muß ich in meinen Bericht eine kleine persönliche Anmerkung einschalten. Als Astigmatiker war ich zu Lebzeiten verurteilt gewesen, stets Augengläser zu tragen. Nach meinem Hinscheiden aber schien man mir diese abgenommen zu haben, was einerseits meine Züge gehoben haben mochte, mich aber andererseits jetzt in beständige Verlegenheit brachte und mir meine Aufgabe ziemlich erschwerte, sah ich doch während meines ganzen Aufenthaltes alles recht verschwommen und vielfach nur in Umrissen. Die einfache Lehre, die man aus diesem Umstand ziehen sollte: ›Lasset euern Dahingegangenen die Brillen auf der Nase, denn man kann nie wissen …‹ Da waren die Ägypter und andre Völker aus den Anfängen der Menschheit viel vorsichtiger. Sie gaben ihren Toten eine vollkommene, gebrauchsbereite Ausstattung mit, die selbst die von wohlhabenden Bräuten übertraf. Ach, mir wäre schon mit einem alternativen Hemd, zwei Kragen, zwei Taschentüchern und vor allem meiner Brille gedient gewesen.
Ebensowenig wie von diesem Festmahl irgendwelche äußern Reste übriggeblieben waren, ebensowenig war man sich einer verdauenden Nachwirkung des Genossenen bewußt. Ich empfand weder Sättigung noch unbefriedigten Appetit, sondern nichts als eine leise und wohlige Erwärmtheit. Ja, ja, ich hatte mich nicht mit Materie vollgepampft wie in meinen guten Jahren (das hat auch seine Vorzüge gehabt), sondern mit Substanz, wenn nicht gar nur mit der Idee von Substanz, im winzigen Hohlmaß von dickem Kristall dargereicht. – Wenn es dem Leser bisher nicht selbst aufgefallen ist, so möchte ich sein Augenmerk darauf lenken, daß, wie zur Herstellung dieses Mahles, auch zu seinem Service eine Dienerschaft weder vonnöten war noch auch sich zeigte. Ich empfing das jeweilige Süppchen oder Tränklein im Becher jedesmal aus Io-Rasas Händen persönlich. Wie es dahin und wie die übrigen Becher in die Hände der andern Festgäste gerieten, das kann ich wegen oberwähnter Augenschwäche leider nicht angeben. Mit dem Auftrag einer solchen Berichterstattung sollte das nächstemal ein Verstorbener ohne jedes Gebrechen betraut werden.
Was mich an mir selbst jedoch am meisten erstaunte, war, daß ich kein Bedürfnis nach Tabak oder Alkohol empfand und meine Tasche weder nach einer Zigarettenschachtel abtastete noch auch nach einem Gläschen Cognac umherlugte. Sollten hunderttausend Jahre der Entziehung wirklich genügt haben, mir diese Laster abzugewöhnen? Doch selbst wenn diese Entwöhnungszeit zu kurz gewesen wäre, hätte mir meine mitgeschleppte Süchtigkeit auch nichts genützt. Denn die neue Mitmenschheit, der ich im Augenblick meinen Besuch abstattete, rauchte nicht noch trank sie Branntwein. Mit den überstandenen Leidenschaften schien auch der Trieb nach stimulierenden Giften verschwunden zu sein, jene Rate dionysischer Selbstzerstörung, auf die wir in unsrer Jugendzeit stolz gewesen sind bis zum albernen Wetteifer in allnächtlichen Exzessen. Wie hatte ich doch alle braven Jünglinge verachtet, die nichts vertrugen und um elf Uhr bereits zu Bette lagen, und wie jene »Sieger des Lebens« verehrt, die bis zum Morgengrauen mit hochgerötetem Gesicht und schwimmenden Augen von Taverne zu Taverne zogen; diese Verehrung des Trinkers und des Trinkens hatten freilich nicht nur wir geübt, sondern nicht minder unser halber Zeitgenosse Plato (uns nur um rund zweitausend Jährchen voraus), der seinem bekannten Geisteshelden Sokrates die Kraft verlich, mit siebzig die Jüngsten untern Tisch zu zechen und sich trotzdem ziemlich nüchtern ins Morgenrot hinauszuschleichen. Nun, nicht Plato und wir, sondern diese hier hatten recht, das bewies ihre ewige Jugend. Hatten sie eigentlich recht?
Ich machte mich bei der ersten Gelegenheit an B. H. heran und verlangte
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