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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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›O terra addio, addio valle di pianti‹. Die Zeit brannte von beiden Enden auf die Mitte zu, und die Mitte war mein unbeschütztes und ausgesetztes Ich. Mit dreißig Jahren versetzte ich mich ins vierzigste, ich der leichtsinnigste, gewissenloseste Sündenlümmel, den ich kenne, mit vierzig ins fünfzigste, immer dachte ich zurück oder vorwärts, nie war’s Gegenwart auf meiner Uhr, und als plötzlich alles um war, hatte es noch kaum begonnen und doch seit jeher gedauert. Verstehn Sie mich …?«
    Ich öffnete die Augen. Die wunderschöne Ahnfrau näherte sich mir … Ich wollte aufspringen. Sie winkte mir mit ihrer Marmorhand, der man die Eiseskälte ansah, sitzen zu bleiben.
    »Ich verstehe, Seigneur«, sagte sie in ihrem zynisch schwingenden Kontra-Alt, »daß Sie sich leidenschaftlich ans Leben geklammert haben in den Anfängen der Menschheit …«
    Darauf ich, die persönliche Wahrheit vermeldend:
    »Oft leidenschaftlich ans Leben geklammert, Madame, oft leidenschaftlich aus dem Leben fortgewünscht … Ich nehme an, daß man auch heute noch fühlt, was das Erwachen eines Liebenden am Morgen ist, wenn ihm der Verlust einer Geliebten, einer Mutter, eines Kindes mit einem Schlage bewußt wird … Das Erwachen eines Verurteilten im Untersuchungsgefängnis … Das Erwachen im Schützengraben um vier Uhr morgens vor dem Angriff … Wir waren bedroht, immer bedroht vom Verlust und vom extremen Schicksal des Ichs oder des uns verbundenen Dus …«
    Das ›extreme Schicksal‹ war ein Euphemismus. Ich war schon so weit, daß ich um keinen Preis das nackte Wort ›Tod‹ gebraucht hätte. Da sagte der Beständige Gast, der mit dem charakteristischen Barockkopf:
    »Nun, das ist bei uns wirklich anders, denn wir gehn den letzten Weg freiwillig und zu Fuß.«
    Jetzt stand ich auf und verbeugte mich:
    »Nicht ich habe das erklärende Wort gesprochen, sondern Sie, mein Herr. Ja, in der Freiwilligkeit und in der Vorherbestimmung der eliminierenden Wendung liegt der ganze Unterschied. Unsere Nerven waren tagaus, tagein terrorisiert vom vorhergesehen Unvorhergesehenen. Jeder Atemzug unserer Zeit war bedroht. Inzwischen aber hat das Menschengeschlecht seine größte Tat vollbracht. Sie haben die wilde Zeit domestiziert, Messieurs-Dames … Sie sind weder von außen noch von innen mehr bedroht.«
    »Wir sind bedroht«, sagte Io-Fagòr langsam, nachdem eine schwangere Pause vorübergegangen war. Alle sahen sich bedeutsam an. Die Elfenbeinfarbe ihrer Gesichter schien um einen Schatten bläulicher zu sein.
    »Wir sind bedroht, Seigneur«, fuhr der Brautvater mit gedämpfter Stimme fort, »und zwar grausamer und schrecklicher als Sie es jemals waren.«
    »Überschätzen Sie den Gegensatz der Generationen nicht«, suchte ich zu beschwichtigen, an die Worte denkend, die er vorhin über die Jugend gesprochen hatte. »In manchen Zeiten verschärft sich die natürliche Intention der Kinder gegen die Eltern. Das ist keine ernste Bedrohung, das ist eine Form der gesunden Entwicklung. Da hatten wir bei uns einen schwer lesbaren Philosophen, Hegel hieß er. Seine Theorie von der geschichtlichen Dialektik ist aber trotz allem ein Gemeinplatz geworden. Die Thesis ruft die Antithesis hervor, das Pendel muß von einer auf die andre Seite schwingen, nur damit die Sache weitergehe.«
    »Mit dem Gegensatz von Eltern und Kindern hat es gar nichts zu tun«, versetzte Io-Fagòr und schüttelte seinen goldenen Kopf.
    »Sollte etwa eine Naturkatastrophe drohen?« forschte ich weiter, von ungebührlicher Wißbegier verführt. »Sie werden doch Mittel genug besitzen, sich vor Vereisungen oder Überflutungen zu schützen.«
    »Diese Mittel besitzen wir wohl«, nickte der Hausweise, »aber nicht eine solche Katastrophe ist es, die uns schreckt.«
    Ich suchte B. H.’s Blick. Er wich mir aus.
    »Weiß er noch nicht?« fragte der Hausherr.
    »Nein, er weiß noch nichts«, erwiderte B. H.
    Das Mahl war zu Ende. Die Runde um das beunruhigend ausdrucksvolle, aber abstrakte Kunstwerk hatte sich aufgelöst, einem Lächeln und leichten Kopfnicken Io-Rasas, der Hausfrau, gehorchend. Die schöngesichtigen und feingestaltigen Männer und Frauen bildeten zwei streng getrennte Gruppen. Das war völlig im englischen Stil und verführte mich zu dem flüchtigen Einfall, die Welt müsse einst vor vielen Jahrzehntausenden durch die Angelsachsen unifiziert und dominiert worden sein, und davon sei diese puritanische Nachtischsitte noch in dieser fernsten Zukunft

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