Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
die keusch verwischte Fleischfarbe der nackten Körper unter den durchsichtigen Schleiern. Mein Blick suchte B. H. Er lächelte und schien ganz zufrieden mit mir zu sein. Da schloß ich die Augen. Sofort verschwand die Gegenwart einer fremden Zukunftswelt und machte Platz der Vergangenheit einer heimatlichen Gegenwartswelt, die gleichsam mit dem Augenblick meines Todes stehengeblieben war wie eine Uhr. Von jener, der gegenwärtigen Zukunftswelt, hatte ich vorhin mit einiger Eloquenz schmeichlerisch schwärmen können, über diese, die vergangene Gegenwartswelt, wie gewünscht nett zu causieren, gelang mir keineswegs. Gewiß enttäuschte ich den kühlen und leicht beschwingten Geist des Wortführers, der jedes Problem in Causerie einzuwickeln gewöhnt war, da ja im Plaudern sein Hausamt bestand. Es waren aber keine schlagenden Aphorismen, keine erklärenden Merkworte, die ich zustande brachte, sondern vage Umschweife, Gleichnisse und Beispiele. Ich war eben nur ein Urmensch … »Ich stelle mir jetzt vor, Messieurs-Dames«, sagte ich, ohne die Augen zu öffnen, »daß ich zwölf Jahre alt bin … Es ist Mitte Juli, das Schuljahr zu Ende, vorigen Samstag wurden die Zeugnisse verteilt, wir sind aufs Land gefahren, die Eltern mit uns Kindern … Zehn Wochen Sommerferien liegen vor mir, eine Unendlichkeit von Faulheit, Neugier, Körperlust und Seelenglück: Schwimmen im See, Segeln, wildes Spiel mit den andern Buben, Croquett-Turnier, Wagenfahrten, Ausflüge, Bergbesteigungen, Picknicks, ungewöhnliche Mahlzeiten in kleinen Wirtshäusern, Sommerfeste, Coriandolischlachten, Feuerwerk, Illuminationen, Rasten auf weiten Almwiesen, Schlaf an Waldrändern, die nach Zyklamen duften und nach dem würzigen Koniferenboden unzähliger gestorbener Herbste. Ah, wieviele Abenteuer fühl’ ich auf mich warten, Abenteuer … Es ist noch immer der fünfzehnte Juli … Meine Herrschaften, warum fällt plötzlich während einer Minute dieses unerschöpflich langen Gnadentags dem Zwölfjährigen ein, daß an demselben Fensterchen, an dem er steht und auf die ewigen, schattenwerfenden Berge starrt, es einmal nicht mehr der fünfzehnte Juli sein wird, sondern der fünfzehnte September und alle die Abenteuer des Glücks und der Pflichtlosigkeit, die jetzt vor ihm liegen, hinter ihm liegen werden, und wie ist das geschehn, im selben Augenblick ist der fünfzehnte September auch wirklich da … Verstehn Sie mich, verstehn Sie mich?«
    Ich wußte nicht, ob sie mich verstanden. Keine Antwort zerriß die Nacht vor meinen geschlossenen Augen. Da versuchte ich, es an einem andern Beispiel zu erklären:
    »Wir hatten in unserer Welt eine prächtige Einrichtung, Oper hieß sie. Sie werden darüber wohl nichts mehr vernommen haben … Oper … Bitte hilf mir, B. H.!«
    »Sympaian«, sagte B. H. verdolmetschend.
    »Sympaian«, wiederholte der Chor einiger Stimmen, durch den bekräftigenden Klang andeutend, daß ihm die Sache durchaus nicht unbekannt sei.
    »Sympaian oder Oper, gleichviel«, hörte ich mich hinter schwarzen Schleiern sagen. »Ich war mehr als ein Enthusiast, ich war ein Opernfanatiker. Die Arie ›Celeste Aida‹ des Tenors ist gesungen. Jetzt wird die breite Melodie der Amneris eintreten ›Quale insolita gioia‹, dann das atemlose ›Forse l’arcano amore scopri che m’arde in core‹, damit sich schließlich auf der schaukelnden und verschobenen Stütze eines synkopierten Hornstoßes und eines kleinen, leisen Paukenwirbels das sinnbetörende, ja schwindelerregende Terzett entwickele, das gekrönt ist von dem schmerzlich stolzen Sangesbogen des Soprans: ›Ah no, sulla mia patria non geme il cor‹. Das alles kenne ich Takt für Takt, dem allen warte ich, bange ich sehnsuchtsvoll entgegen, es noch einmal zu genießen und zu verewigen im Seelengenuß. Doch im Augenblick, wenn die Melodie sich entfalten will, erfaßt mich die Herzensangst, daß sie im Nu zu Ende sein werde und vorbei, und sie ist schon vorbei in mir, ehe ihre Begleitung im Orchester noch recht begonnen hat … Verstehn Sie mich, verstehn Sie mich? …«
    Wieder Schweigen. Ich öffnete die Augen noch immer nicht:
    »Meine Zeit, Messieurs-Dames, war sehr kurz, an der Ihren gemessen. Sie glich in mancher Hinsicht jenen Melodien, die wir von unsern Vorfahren überliefert bekamen, in deren Anfang das Ende und in deren Ende der Anfang beschlossen war, und die, während sie noch abliefen, schon ausgeatmet hatten, weil wir sie als süße Erinnerung in uns trugen:

Weitere Kostenlose Bücher