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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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auszutauschen. Hunderte von Gruppen fanden sich zusammen, auf ihren Schlittschuhen schwungvolle Schleifen beschreibend.
    Überall schwebten die Gestalten in ihren matten Changeant-Schleierraffungen durcheinander. Die goldenen und silbernen Kopfaufsätze zitterten und schimmerten unruhig auf. Aus dem kreisrund abgegitterten Bergwerk oder Teichbecken, das das versenkte Denkmal des »Letzten Krieges« umschloß, stieg ein martialisch rötlicher Schein empor. Der Fremdenführer dieses Zeitalters hatte sich längst wieder ins Erdinnere zurückgezogen. Die Schultafel auf dem Firmament, wo Professor Io-Sums Gedanke mehrmals hintereinander reproduziert worden war, starrte wieder schwarz und schwärzer. Rührend schien mir’s immerhin, daß sich die gegenwärtigen Menschen ringsum nicht über die Wahl eines politischen Parteikreisleiters, über einen Industriestreik oder eine Börsenkatastrophe ereiferten, sondern über die größte Streitfrage aller Zeiten, den Gottesbeweis, hinsichtlich dessen, wie ich hörte, sogar heimliche Wetten abgeschlossen wurden. Bräutigam Io-Do wandte sich mit bedauerndem Achselzucken an mich:
    »Es tut mir leid, Seigneur, Sie haben Pech. Heute, am dritten Tag der Woche, ist immer das fadeste Abendprogramm.«
    Ich stellte an den Fiancé die Frage, was für ein Programm zum Beispiel für morgen vorgesehen sei. Morgen werde eine »Rätselsoirée« abgehalten, bekam ich zur Antwort, konnte aber diesen Begriff nicht mehr näher erklärt bekommen, da das schwarze Rechteck oben wieder sich mit Sternenschrift zu füllen begann. Und nun war es Professor Io-Clap, der zum Gegenschlag ausholte:
    »Fünfzehn Punkte für Professor Io-Sum. – Siebzehn Punkte für Professor Io-Clap. – Die letzte Runde des Wettspiels ist im Gange. – Io-Clap, der große Improvisator, hat seine Antwort auf Io-Sums neuen Beweisgrund in Vorbereitung. – Er wird in vier, vier zehntel Minuten die ungeheure Geistesanstrengung erfolgreich beendet haben. – Es fehlen dahin noch zwei, zwei zehntel Minuten. – Wir stehen knapp vor der Entscheidung im Weltmatch über die größte Streitfrage aller Zeiten. – Wenden Sie nicht die Augen vom Himmel. – Das Komitee hat schon den Beschluß darüber gefaßt, ob die Entscheidung durch allgemeine Abstimmung erfolgen soll oder durch den Preisspruch eines Unparteiischen. – Wenden Sie die Augen nicht vom Himmel. – Drei, fünf zehntel Minuten der Arbeit sind vergangen.«
    »Das nenne ich aber ein imposantes Stück von amerikanisiertem Journalismus und gehauter Stimmungsmache«, flüsterte ich B. H. ins Ohr.
    Mein Freund sah sich nach allen Seiten um, dann flüsterte er zurück:
    »Das Objekt der Stimmungsmache aber ist kein Pferderennen und keine ›Quiz-Veranstaltung‹, sondern immerhin der Beweis vom Dasein Gottes …«
    »Beides ist dasselbe geblieben, B. H.«, zuckte ich die Achseln, »der Mensch und seine geistigen Grenzen …«
    Jetzt ging wieder das braune Raunen durch die Menge, denn die Sterne schrieben und schrieben:
    »Vier, zwei zehntel Minuten. – Professor Io-Clap leistet noch immer Gedankenarbeit. – Vier, vier zehntel Minuten. – Die Arbeit ist beendet. – Wenden Sie die Augen nicht vom Himmel. – Professor Io-Clap hat seine Ansicht in hundertsiebenundvierzig Worten konzentriert. – Die letzte Runde geht zu Ende. – Professor Io-Claps hundertsiebenundvierzig Worte …«
    Und wieder wurde die Schultafel schwarz und noch viel, viel schwärzer als je zuvor. Atemlos schwieg die Menge der Himmelszeitungsabonnenten, und auch mir klopfte das Herz unterm steifen Hemd. Dann begannen unter allgemeiner Spannung die Sternlein wieder zusammenzuspringen und schrieben Io-Claps Gedanken wie folgt:
    »Mein Gegner behauptet, daß der Wille des Seins, zu sein und nicht nicht zu sein, den strikten Beweis dafür bilde, daß dieses geschaffene Sein einem schaffenden Sein entflossen sei. Ich aber frage den Sophistes Io-Sum: Kann eine Bejahung in sich selbst ihre Verneinung tragen? Kann das Sein die Idee des Nichtseins überhaupt fassen? Kann das Leben, sofern es nicht seinem Gegenteil bereits angehört, dieses Gegenteil überhaupt wollen können? Dreimal Nein! Der Selbsterhaltungstrieb, d.h. der unbekehrbare Wille des Seins, zu sein, ist nicht eine wandelbare Eigenschaft, sondern eine Hypostase, ja die Natur dieses Seins selbst, die von ihm nicht weggedacht werden kann. Der Wille des Seins zum Sein ist daher unwidersprechlich immanent und deutet auf nichts hin als

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