Stern der Ungeborenen
mußt du rechnen …«
Da wußte ich plötzlich, daß der Mensch während der hunderttausend Jahre meines Todes die Fähigkeit gewonnen hatte, seine inneren Bilder zu entwickeln, stetig zu machen und an die Wand zu projizieren. Das blasse Durcheinander des ehemaligen Vorstellungslebens hatte unendlich an Kraft, Unterscheidungsschärfe und ausgearbeiteter Deutlichkeit gewonnen. Jedermann war sein eigener Maler und Dichter und konnte seine Visionen in klarster Abgehobenheit von den Zimmerwänden des unterirdischen Hauses lesen. Das künstliche Mondlicht und der artifizielle Waldesduft hatten mächtige Erinnerungen in mir erweckt, die mich nun als dynamische Wandtapete vollbildhaft begrüßten. Das Geistige war also stofflich, wie das Stoffliche geistig war.
»Man sieht Sie dort schlecht, Seigneur, weil Sie im Schatten stehn«, ließ sich der satte Kontra-Alt vernehmen. »Nur näher getreten, bitte, immer nur näher. Mein Ururenkelkindchen hat sich’s um Sie verdient, mit Tränen. Nicht wahr, Lala? Man hat dir eine originelle Unterhaltung versprochen, und die originelle Unterhaltung läßt stundenlang auf sich warten an deinem Ehrenabend …«
Nach diesen Worten lachte die jugendschöne Ahnfrau sonderbar golden und doch klanglos. Ich aber trat verlegen und, weiß Gott warum, auf Zehenspitzen zum mächtigen Brautlager. IoRasa hatte ihr Werk inzwischen vollendet. Das Bett war von oben bis unten zugeschüttet von der starren, duftlosen Lebensblume und Ersatzrose dieses Zeitalters. Darunter lag die Braut, man kann’s selbst im mentalen Stil nicht anders bezeichnen, auf dem Bauche. Sie hielt ihr Gesicht in den Armen vergraben, und manchmal schien es, daß ihr unter dem traditionell taubengrauen Schleiergewand glorios leuchtender Rücken von trotzigem Schluchzen geschüttelt wurde.
»Mein eigensinniger Liebling«, schmeichelte Io-Rasa, »mein Lalachen, du mußt uns nicht mehr quälen. Seigneur ist gekommen. Seigneur steht sogar neben dir …«
»Steht er wirklich neben mir?« ertönte der Braut Stimme, ziemlich dumpf und abgerissen, unter der Armverschränkung hervor:
»Ist er wirklich da, oder wollt Ihr mich wieder nur foppen?«
»Wir haben dich nie gefoppt, Lalalein«, sagte die Brautmutter mit zärtlichem Vorwurf. »Wir haben gelitten unter deiner Wildheit und Nervosität, die zum heiligen Brautstand gar nicht paßt. Mein Herz ist sehr bedrückt. Sei nicht mehr so kindisch, wenn du auch noch verzweifelt jung bist.«
»Bitte nicht sagen, daß ich jung bin«, grollte Lalas Stimme dumpf. »Du weißt, ich will und will und will das nicht hören.«
»Viel zu jung«, tadelte die Ahnfrau erbarmungslos, »noch keine Sechsundzwanzig alt. Zu meiner Zeit hat man die Sechs- undzwanzigjährigen noch in den ›Park des Arbeiters‹ gejagt, damit sie wachsen, anstatt sie zu verheiraten …«
»Sei nicht unhöflich, Lalachen«, fiel die Brautmutter ein, »und dreh dich endlich um. Du kannst Seigneur nicht immer nur deinen Rücken zeigen.«
»Er hat mich ja so lange warten lassen«, erklang Lalas Stimme von unten, und es war wirklich und wahrhaftig Gekränktheit in ihrem Ton und ein unterdrücktes Schluchzen.
»Mein liebes und verehrtes Fräulein«, hörte ich mich mit meiner verlegensten Höflichkeit sagen, »ich bin neu hier. Sie verstehen: ein ganz grüner Neuling und ein Urfremder, der nur sehr schwer mitkommt. Ich bin ganz unschuldig daran, daß Sie bis zum Ende der ersten Vigilie warten mußten. Man hat mich aus dem Alphabet gestochen und hierherzitiert, ohne daß ich’s wußte und wollte. Ich bin vollkommen abhängig. Ihr Herr Vater und Ihr Herr Fiancé bestimmen mein Programm, nicht ich selbst. Es tut mir leid, daß ich Sie ungeduldig gemacht habe. Aber ich muß diesseits, ich meine jetzt und hier, jede Verantwortung ablehnen, nicht nur für meine Verspätung, sondern auch für alles andre, was sich noch ereignen könnte …«
So sprach ich in gesetzter Rede, wobei ich ein bitteres Mißgefühl über mich selbst nicht loswerden konnte. Ich kam mir vor wie ein pedantischer Schubiack, der sich mit ledernen Feststellungen einer Frau gegenüber für begangene und noch zu begehende Gemeinheiten reinwaschen möchte.
»Also sind Sie wirklich da, neben mir«, sagte Lala in ihre Arme hinein, doch der Tonfall klang verändert.
»Ja, er ist wirklich da«, flötete die Brautmutter mit übertriebenem Entzücken, und es klang so kindisch lockend, als spreche sie zu einer Fünfjährigen und nicht zu einer
Weitere Kostenlose Bücher