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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Landschafts- und Wohnungsschilderungen zu überschlagen, welche der Autor ja weniger ihm, als seiner eigenen pedantischen Ehrlichkeit zuliebe über das richtige Maß ausdehnt. Wie kühn hingegen behandeln die großen Dramatiker der Vergangenheit das Problem der Beschreibung, der Bühnenanweisung. Calderòn, Lope de Vega, Shakespeare schreiben einfach hin:
    »Nacht. Burghof«, und wenn es sich bei letzterem um ›Macbeth‹ handelt, muß der Dichter gar nicht erst hinzufügen: »Wolkenzerrissener Himmel, Wind. Ein Käuzchen klagt.« In den beiden Worten »Nacht. Burghof« ist das alles vorhanden, und noch manches dazu. Jedes Wort mehr würde des Dichters Größe vermindern. Mit dem Reiseschriftsteller freilich, den ich hier vorzustellen berufen bin, muß man schon einige Nachsicht haben. Nicht Handlung, Verwicklung, Intrige und Lösung des Konflikts sind sein Hauptgeschäft, sondern, schrecklich zu sagen, Beschreiben und immer wieder Beschreiben. Einem Forschungsreisenden zum Beispiel, der über die Antarktis berichtet, ist es nicht vergönnt, sich auf den seelischen Eindruck zu beschränken, den die beiden Vulkane Terror und Erebus in ihm hervorrufen. Er ist verpflichtet, in sachlichen Worten und genauen Ziffern ihre geographische Lage, ihre absolute und relative Höhe, ihre geologische Gestaltung und den Zyklus ihrer Tätigkeit zu vermelden. Dies ist die Aufgabe eines Forschungsreisenden im Raum, wo sich alles unbeweglich und nachprüfbar an Ort und Stelle befindet und dem Beschreibenden überdies eine Menge von Kartenwerken zur Verfügung stehen, die er zu Rate ziehen kann, wenn er seinem Gedächtnis nicht traut. Diese Hilfen und Gedächtniskrücken besitzt der in die Zeiten vorausgesandte Berichterstatter mitnichten. Es gibt keine Nachschlagwerke über das Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau auf Erden, und die Schneewüste des Franz-Josef-Landes unterhalb des Nordpols ist weit belebter als das Geodrom, die zentrale Plaza, auf der sich Zehn- und Hunderttausende drängen. Das soll nicht bedeuten, daß ich mich meiner schweren Aufgabe wegen selbst bedaure, sondern es soll dem nervösen Leser erklären, warum ich immer wieder in das verhaßte Genre der Beschreibung verfalle, ohne imstande zu sein, in zwei Worten ein shakespearisches Bild zu malen. Ein Bild ist nur dann verständlich, wenn es ein Nachbild von Vorbildern ist. Habe ich aber ein Vorbild – man möge mir’s zugeben –, welches das Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau darstellt?
    Die mondbemalten vier Wände des Brautgemaches waren beunruhigend lebendig. War es eine stets wechselnde, dynamische Tapete, die sie bedeckte? Oder wurde ein endloser Film von irgendwoher projiziert, ein hauchartiger Film, der immer dieselbe Landschaft zeigte, die nur durch Wind, Licht und Schatten stetigen Verwandlungen unterlag? Nein, beide Erklärungen trafen nicht zu, so entschieden meine Augen. Im Hintergrunde der rings um die vier Wände laufenden Bilder hoben sich mehrere Bergketten voneinander ab, die nur durch das heller oder dunkler nuancierte Blau unterschieden waren, in welches der Mond sie tauchte. Woher aber kam die Erinnerung dieser Bergketten und dieser nächtlichen Tinten in die unterirdische Wohnung hier? Seit Jahrtausenden hatte der eisengrau beteppichte Planet vergessen, daß ihm solche Bergketten je entwachsen waren und daß sich ein Blau hinter dem anderen in immer dunstigeren und helleren Schichten abheben konnte. Und mehr als das: Es waren die Berge
meiner Erinnerung,
die Berge, unter welchen ich zwanzig Jahre meines verhältnismäßig kurzen Lebens geatmet und gearbeitet hatte. Wie kam diese Landschaft als visionäre oder dynamische Tapete an die Wand von Io-Las bräutlicher Kemenate? War’s eine Ovation des mentalen Zeitalters für mich, wo ein jeder mehr vom innern Leben des andern wußte als gut sein konnte? Wir ich es selbst, der aus meinem innern Schatz die teuere Landschaft an die weiße Wand warf und zugleich eine kleine, verzagende Bewegung machte, um meinem nostalgischen Erstaunen einen schwachen Ausdruck zu verleihen? Im Vordergrund der visionären Wandtapete, deren Tiefenperspektive jede stereoskopische Photographie an Plastik übertraf, spielten die Schattenmuster der biegsamen Lärchenzweige im leichten Nachtwind, und da stand auch die morsche Aussichtswarte des Kreuzberges …
    »Siehst du dasselbe wie ich, B. H.«, flüsterte ich, »dort an der Wand?«
    »Was siehst du, F. W.?« lächelte er. »Wir haben jeder eine andere Tapete, damit

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