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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Toilettefehler? Nein. Vielleicht war mein Haar zu lang und ungekämmt? Das Haar soll ja noch im Grabe weiterwachsen. Ich fuhr mir in die Haare. Sie waren nicht sehr dicht, aber fühlten sich sonst normal an. Wahrscheinlich aber waren es doch die Haare, die mich unmöglich machten. Hätte ich wenigstens eine meiner Baskenmützen mitbekommen. Das Gefühl der Beschämung lief mir den Rücken herab. B. H. stand immer bescheiden in der Tür. Ich rief ihn an, laut und pointiert:
    »Habe ich das nötig gehabt, lieber Freund? Laß uns jetzt gehn.«
    »Oh nein, bitte, Seigneur, gehn Sie nicht«, sagte Lala sehr schnell, und das Lachen auf ihrem Antlitz versiegte jäh zu einem tief erschrockenen Ausdruck. Dieser befriedigte mich ungemein. Es war ein prächtiges Gefühl des Sieges, das mich durchwärmte, und ich wollte den Sieg auswalken, um ihn noch länger zu genießen. Darum stellte ich mich in Positur und hielt eine kleine verlogene Ansprache: »Ich weiß, daß ich nicht viel wert bin, meine junge Dame. Ich weiß, daß nicht nur mein Gewand hier voll Flecken ist und daß einige Knöpfe abgesprungen sind und daß ich altmodische Haare auf dem Kopf trage und daß all dies zusammen komisch wirken mag. Meine ganze Existenz ist leider voll solcher Flecken und abgesprungener Knöpfe, die sich nicht rechtfertigen lassen. Auch sind meine Haare, was sie sind. Haben Sie aber das Recht, sich darüber zu mokieren? Hat nicht ein zu Ende gelebtes Leben Anspruch auf einige Achtung? Und außerdem, Fräulein, sind Sie hundsjung, und ich bin, wenn nichts anderes, doch ein älterer Mensch …«
    Io-La hatte Tränen in den Zyanenaugen, als sie mich noch immer erschrocken ansah. Ich genoß diesen Blick außerordentlich.
    »Ich hab mich nicht über Sie mokiert, Seigneur«, stammelte sie. »Ich hab’ Sie schrecklich hergewünscht und mich schrecklich vor Ihnen gefürchtet. Gelacht hab ich ja nur, weil Sie
nicht
fürchterlich sind. Ich habe sehr große Lust, Ihr Gewand anzurühren, Seigneur. Darf ich das?«
    Ohne meine Antwort abzuwarten und ganz gegen die Usancen der Zeit streckte sie ihre langfingrige Hand aus und begann den brüchigen Stoff meines Schwalbenschwänzlers zu befühlen. In einer Epoche, wo es nur hauchige Schleiergewänder gab, mußte es eine eigenartige Sensation sein, diese schwere, grobe Textilie aus den Anfängen der Menschheit zwischen den Fingern zu reiben. Lala hielt ihre Augen geschlossen. Sie schien mit der Hand in dem Stoff zu lesen wie eine Blinde.
    »Älterer Mensch«, wiederholte die Ahnfrau spöttisch, die auf ihrem herausgeklappten Bügelbrett lehnte, »warum ein älterer Mensch, Seigneur? Man darf dergleichen nicht fragen, befiehlt die Sittenlehre, ich weiß das wohl. Was aber dürfte eine Ahnfrau nicht fragen? Wie alt also sind Sie oder waren Sie, wenn Sie das noch wissen sollten?«
    »Ich bin oder ich war um die Zweiundfünfzig«, sagte ich, und es war ein klein wenig ungenau zu meinen Gunsten, denn wäre die Zeit für mich nicht stehengeblieben, so hätte ich meinen dreiundfünfzigsten Geburtstag damals in wenigen Wochen feiern müssen. Ich ärgerte mich über diese kleinliche, weibische Korrektur. Zu welchem Zwecke wollte ich jünger erscheinen, fragte ich mich, und noch dazu am andern Ufer der Zeit?
    »Zweiundfünfzig Jahre« – der Kontra-Alt zog diese Worte sehnsüchtig in die Länge, »zweiundfünfzig Jahre; da gehören Sie ja noch zur strammen Jugend in bester Kondition. Sie sind ja noch ein Aikmetant, Seigneur …«
    »Und ein Eumelieur«, fügte die Brautmutter Io-Rasa hinzu. Lala aber repetierte mit ironischer Melodie, das Seidenfutter meines Rocks streichelnd:
    »Sie sind ein Aikmetant, Seigneur, und ein Eumelieur …«
    Diese beiden Fremdworte der Monolingua habe ich mir genau gemerkt. Sie gehören gewissermaßen zu den ganz wenigen objektiven Dokumenten, die ich von meiner Reise gerettet und heimgebracht habe. Die philologische Durchdringung der genannten Ausdrücke nahm nach meiner Heimkehr – in den Tagen, da ich dieses niederschreibe – viel Zeit und Mühe in Anspruch. Ein Freund, der meine Unruhe sah, schenkte mir zu diesem Zwecke ein ehrwürdig moderduftendes Lexikon, betitelt ›Griechisch-Deutsches Schulwörterbuch von Doktor Gustav Eduard Benseler, Siebente verbesserte Auflage, besorgt von Doktor Georg Authenrieth, Rektor des Gymnasiums in Zweybrücken, gedruckt zu Leipzig 1882 ‹. Dieses Wörterbuch ist an die tausend Seiten stark und weist eigens darauf hin, daß es den

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