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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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Abiram!«, ganz leise, irgendwo. Voller Entsetzen presste er die Hände an die Schläfen. Verfolgte ihn die Mutter schon im wachen Zustand?
    »Abiram …«, flüsterte es wieder.
    »Nicht, Mutter, nicht …!« Er wankte besinnungslos vor Grauen zur Lattentür. Er sah Ruths Gesicht an die Stäbe gepresst. Ihr Zopf war durch das Gitter gerutscht.
    »Abiram«, Ungeduld lag in ihrer Stimme, »warum antwortest du nicht? Du siehst doch, dass ich wiedergekommen bin.«
    Es war nicht die tote Mutter, die gerufen hatte. Das Mädchen war zurückgekommen.
    »Schieb dir die Kiste an die Tür, dann kommst du leichter auf das Regal«, schlug sie vor, »oben fehlt eine Latte, da kannst du wenigstens den Kopf durchstecken.«
    Abiram schob die Kiste an die Tür und kam jetzt ganz leicht auf das Regal. Mit dem Fuß warf er eine Himbeerflasche um.
    »Was war das?«, fragte sie ängstlich.
    »Der Aufseher«, sagte Abiram und trat in die Scherben.
    »Was?« Ruth beugte sich noch weiter durch die Stäbe.
    »Himbeersaft«, sagte Abiram lauter.
    Sie lächelte. »Davon ist genug da.«
    »Ja.«
    »Warum hast du mir nicht geantwortet?«, fragte sie wieder.
    »Ich hab geschlafen.«
    »Aber du hast gesprochen!«
    »Das tu ich oft, wenn ich schlafe, weil ich immer dasselbe träume.«
    »Was denn?«
    »Wie meine Mutter erschossen wurde.«
    Ruth umfasste die Stäbe fester. »Das träumst du jede Nacht?«
    »Ja, ich bin schon daran gewöhnt. Aber als du gerufen hast, dachte ich, ich höre Mutters Stimme schon im Wachsein. Da bekam ich Angst.«
    Ruth konnte nicht antworten. Es war schrecklich, wie er das sagte.
    »Meine Mutter ist auch tot«, sagte sie schließlich. »Verschüttet.«
    Abiram nickte, als wäre ihre Mitteilung selbstverständlich. »Kannst du mich hier rauslassen?«, fragte er.
    Ruth schüttelte den Kopf. Sie griff nach ihrem Zopf und wollte ihn aus dem Gitter ziehen.
    »Nimm deine Haare nicht weg«, sagte er, »es sieht so hübsch aus.«
    Also ließ sie es, obwohl sie den Kopf kaum noch halten konnte und die spitzen Steine der Trümmer in ihre Knie drückten. Er hatte es da unten im Keller viel schlimmer. »Ich könnte dir vielleicht etwas bringen«, sagte sie, »eine Decke zum Beispiel oder eine Jacke.«
    »Meinst du, deine Freunde werden mich anzeigen?«
    »Nein«, sagte Ruth, obwohl sie keineswegs davon überzeugt war, »das glaube ich nicht, solange Antek dabei ist.«
    »Ist das der mit dem Schlüssel?«
    »Nein, der Große.«
    »Aber der mit dem Schlüssel«, Abirams Augen schienen sie zu durchbohren, »der wird es tun?«
    Ruth räumte ein paar Steine weg. »So«, sagte sie, »jetzt ist es für mich bequemer.«
    Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden. Abiram war im Keller kaum noch zu erkennen.
    »Steig mal runter, dort hinten bei den Kartoffelsäcken liegen Kerzen und Streichhölzer.«
    Abiram wollte nicht. »Die heb ich mir für nachher auf, wenn du weg bist.«
    »Weißt du«, sagte Ruth, »mein Großvater ist sehr gut. Er hat vielen geholfen. Wenn ich ihm von dir …«
    Abiram drückte die Stirn an die Latten. »Niemand darfst du etwas von mir erzählen, wenn du mir helfen willst. Keinem Erwachsenen, versprichst du mir das?«
    Seine Augen zeigten Angst. Er stand auf den Zehenspitzen, um ihr noch näher zu sein. »Bitte, versprich es mir!«
    »Ja, aber …«
    »Du musst es mir versprechen, wenn du nicht willst, dass man mich in ein Lager bringt oder erschießt.«
    »Nein, das will ich nicht«, sagte sie schnell, »aber ich muss jetzt gehen, sonst fällt es auf, wenn ich so lange fort bin. Der Großvater wird mich fragen.«
    »Und du sagst ihm nichts?«
    »Nein, wenn du es nicht willst.«
    Sie steckte ihre Hand durchs Gitter und winkte ihm zu.
    »Auf Wiedersehen!«
    »Auf Wiedersehen!«
    Kaum hatte sie sich erhoben, da hörte sie ihn rufen. Sie bückte sich wieder zum Fenster.
    »Ich weiß deinen Namen nicht.«
    »Ich bin Ruth«, antwortete sie und winkte noch einmal.

Die Stube von Julius Kimmich war ärmlich eingerichtet. Die Fenster waren so klein und der Schatten des Kornhauses so dunkel, dass Kimmich auch bei Tag die Lampe einschalten musste. Auf dem Küchentisch, seinem Arbeitsplatz, türmten sich Bücher, Noten und Papiere. Es gab zwei Stühle, einen Tisch und ein Vertiko. Zwischen den Fenstern hing eine Biedermeieruhr. Ruth hatte sie lange nach der Zerstörung des Hauses mit Antek aus den Trümmern gegraben.
    Kimmich blickte immer wieder zu dieser Bauernuhr. Er wartete ungeduldig auf Ruth.
    Seit einer halben Stunde

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