Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
Vom Netzwerk:
schwieg.
    »Zick?«
    Das Gesicht des Kleinen lief dunkel an. Die Hände wurden ihm feucht und er wischte sie mehrmals am Hosenboden ab. Über seine Lippen kam kein Wort. Wenn die Jungen gewusst hätten, wie müde Nagold war und wie dankbar er vielleicht jede Lüge als Wahrheit hingenommen hätte, wäre ihnen wohl eher eine Ausrede eingefallen. So aber verdeckte das schlechte Gewissen über das Geheimnis der verbotenen Speisekammer jede Überlegungen.
    Nagolds Blick richtete sich auf Willi. »Nun?«, fragte er.
    Es sah aus, als wenn Willi das Schweigen unterbrechen wollte. Er schielte von Paule zu Antek. Es reizte ihn, seinem Pflichtgefühl als Hitlerjunge nachzukommen, es reizte ihn aber auch, mutig zu sein und zu reden, während die anderen schwiegen. »Herr Nagold …«, begann er und glaubte, das Herz in seiner Stimme klopfen zu hören.
    »Schnauze!«, zischte Paule hinter ihm.
    Willi verstummte. Vielleicht war es besser, Nagold nicht als Ersten davon zu unterrichten?
    Nagold merkte, dass er so nicht vorwärts kam. »Kommt erst einmal rauf. Eure Verstocktheit hat doch keinen Sinn«, sagte er, immer noch geduldig. »Also, wo wart ihr?«
    Antek fühlte plötzlich in der Geduld des Lehrers Müdigkeit und Resignation. »Wir bitten für unser Zu-spät-Kommen um Entschuldigung«, sagte er mit sicherer Stimme, »aber die Gründe können wir Ihnen nicht mitteilen.«
    Er wartete keinen Widerspruch ab, sondern ging mit ruhigen, festen Schritten zum Singsaal.
    »Antek …«, Nagolds Gesicht drückte eher Verwirrung als Ärger aus.
    Antek blieb stehen.
    »Bitte?«, sagte er höflich.
    Die Freunde sahen ihn bewundernd an. Jetzt, wo Antek den Anfang gemacht hatte, war es gar nicht mehr schwer, Nein zu sagen. Antek hatte sogar den Mut, Nagold in die Augen zu sehen.
    »Ist das alles?«, fragte der Lehrer.
    »Jawohl.« Das hatte Paule geantwortet. Auch aus seiner Unsicherheit wurde Trotz.
    Nagolds Gesicht wirkte noch schmaler. Die Falten rechts und links der Mundwinkel zogen sich tief in die Haut. Er humpelte ein paar Schritte auf die Jungen zu und brüllte plötzlich, ohne die Kinder dabei anzusehen. Das war vielleicht das Unheimlichste, er schrie und blickte über sie hinweg, irgendwohin.
    Die Jungen wichen zurück. Sie verstanden kaum die Worte, die ihnen Nagold entgegenschleuderte. Zick begann als Erster zu laufen, bis er im Singsaal verschwunden war. Willi und Paule folgten, so schnell es ihr Stolz erlaubte. Nur Antek zog als Letzter ruhig die Tür hinter sich ins Schloss.
    Schwer atmend stand Nagold allein im Flur. Der Schmerz raste in seinem Beinstumpf. War er toll geworden? Noch hing das Echo seiner Wut zwischen den Wänden. Schleppend ging er den Flur entlang zu seiner Wohnung. Ein alter, müder Mann, der glaubte, in dem Widerstand seiner Schüler einen weiteren Beweis seines Versagens zu finden. So war das Maß der Lächerlichkeit voll; zum Krüppel geschossen, wehrlos der Macht eines Jähde ausgesetzt, von den Kindern missachtet und verhöhnt.

Verwirrt standen die Kinder im Saal herum.
    »Warum hat er so gebrüllt?«, wollten die Jungen von Antek und seinen Freunden wissen.
    »Er ist krank«, war Anteks unergiebige Antwort, »wahrscheinlich hat er Schmerzen.«
    »Wo wart ihr denn?«
    »Wir haben nachgeguckt, ob die Russen schon da sind«, gab Paule ärgerlich Auskunft.
    Der Aufsichtschüler verteilte die Noten. Mit den vieren war heute nichts anzufangen. Sie sprachen nicht einmal miteinander, sondern brüteten jeder dumpf vor sich hin.
    Willi hatte die Auseinandersetzung mit Nagold am wenigsten berührt. Er war noch immer von seiner bevorstehenden Mission erfüllt, den volks- und rasseschädigenden Juden zu melden. Willi hatte keineswegs einen schlechteren Charakter als seine Kameraden, auch wenn ihm Mitleid für den Jungen im Keller fehlte. Willi hatte eine einwandfreie nationalsozialistische Erziehung erhalten. Als er geboren wurde, bekleidete der Vater einen hohen politischen Posten, und die Mutter zog ihm mit acht Jahren die Uniform an. Die ersten Worte, die er lernte, waren zum Ergötzen der Eltern und Verwandten: »Heil Hitler!« Die Eltern hatten den Sohn nur schweren Herzens in das Alumnat gegeben, da es für seine unpolitische Erziehung bekannt war. Aber Jähde hatte in der Partei einen Namen. Man vertraute auf seinen gesunden Einfluss. Immerhin war der Chor des Alumnates weit bekannt und der Sohn war in der Gesangsprüfung als über den Durchschnitt begabt aufgefallen.
    Willi beugte sich weit über die Bank.

Weitere Kostenlose Bücher