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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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suchte er ein Notenblatt der Friedensmotette. Antek war zwar am Vormittag da gewesen, um Notenmappen abzuholen, aber Kimmich konnte sich nicht vorstellen, dass er die Noten der Motette ebenfalls mitgenommen hatte. Kimmich wusste, was es für ihn bedeuten konnte, wenn Jähde in den Besitz der Blätter käme. Er müsste damit rechnen, auch noch die letzte Verdienstmöglichkeit als Notenschreiber zu verlieren. Das hieße, auf der Straße arbeiten, Trümmer wegräumen oder Schützengräben ausheben.
    Das Klappen der Gartenpforte riss ihn aus seinen Gedanken. Ruth war gekommen. Sie machte sich in der Küche zu schaffen, um dem Großvater Gerstenkaffee aufzuwärmen. Es war spät, sie fürchtete seine Fragen. Ob sie einen Gegenstand fände, der Abiram im Keller nützen konnte, ohne dass es der Großvater merkte?
    Kimmich trat zu ihr in die Küche.
    »Hast du Antek gesehen?«
    »Ja, wir trafen uns am Brunnen und haben ein bisschen den Treckwagen zugesehen«, log sie.
    »Hat Antek was gesagt, ob er falsche Noten mitgenommen hat?«
    Ruth wusste es nicht. Im Augenblick war es ihr auch egal. Wichtiger schien ihr, für Abiram eine Decke zu finden.
    »Komm«, sagte Kimmich, »such du noch mal. Ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich nachsehen soll.«
    Ruth blätterte die Papiere durch. Wer weiß, wo der Großvater die Noten hingelegt hatte. Es war ein solches Durcheinander auf dem Tisch, dass sie das Suchen aufgab.
    »Hast du sie?«, fragte Kimmich.
    Ruth schüttelte den Kopf. »Sie sind sicher nur in eine andere Mappe gekommen«, beruhigte sie ihn.
    Sie ging zum Sofa und nahm den Teppich herunter, der auf einer Seite aufgerissen war.
    »Es sieht ordentlicher aus, wenn ich das Loch stopfe. Man müsste einen Flicken draufsetzen.«
    Kimmich hörte nicht hin. Die fehlenden Blätter steigerten seine Nervosität. Ruth legte den Teppich zusammen. Das hatte der Großvater nicht gemerkt. Jetzt müsste sie noch einen Mantel oder eine Jacke haben.
    »Wir haben oben auf dem Dachboden einen alten Reisekorb mit Kleidern«, sagte sie. »Ob man davon nicht einiges hergeben kann?«
    »Ja, wenn du jemand weißt«, antwortete Kimmich. »Wie kommst du darauf?«
    »Unter den Flüchtlingen hab ich heut einen Jungen gesehen. Er war krank und hatte nicht mal einen Mantel«, erzählte Ruth und ließ ihrer Phantasie freien Lauf. Plötzlich unterbrach sie ihre Schilderungen.
    »Sag mal, Großvater, stimmt das, wenn man was ganz Schreckliches erlebt hat – ich meine etwas, was man nie vergessen kann, dass man das dann sein Leben lang träumen muss? Jede Nacht und immer wieder?«
    »Wer hat dir so etwas erzählt, Ruth?«
    »Ich hab’s gehört, am Brunnen. Eine Frau hat’s gesagt.«
    »Ja, das gibt es«, sagte Kimmich. »Aber du solltest nicht immer am Brunnen rumlungern. Das Elend, das du dort siehst, hilft dir nicht. Es macht nur traurig.«
    »Es muss furchtbar sein, so einen Traum ein Leben lang zu haben«, flüsterte Ruth.
    »Sieh zu, ob du noch etwas findest. Viel Vernünftiges wird nicht dabei sein. Und dann läufst du rüber ins Alumnat zum Antek. Frag ihn nach den Noten. Wenn er sie hat, soll er sie mir gleich wiederbringen, damit es keinen Ärger gibt.«
    »Aber erst such ich nach einer Jacke.« Ruth war froh, dass der Großvater so arglos blieb. Wenn sie sich beeilte, konnte sie Abiram die Sachen bringen und anschließend gleich im Alumnat nach den fehlenden Noten fragen.
    Im Singsaal war Tumult entstanden. Als die Kinder aus Antek, Willi, Paule und Zick nichts herausbekommen konnten, hatten sie sich ihren Noten zugewandt. Sie mussten damit rechnen, dass Nagold jeden Moment den Saal betreten und mit der Chorprobe beginnen würde.
    »Was ist denn das hier?«, fragte eine Stimme neben Antek, der erschrocken aus seinen Gedanken hochfuhr.
    »Friede«, las der Junge laut weiter, »Quartett für Singstimmen, op 14, von J. Kimmich, nach einem Gedicht von H. Hesse.«
    Jetzt war die Aufmerksamkeit aller Jungen geweckt. Jeder wollte die Noten sehen.
    »Wer war heute bei Kimmich?«
    »Ich«, sagte Antek, »zeig mal her!«
    Tatsächlich. Dieses Blatt musste ihm aus Versehen dazwischengerutscht sein. Antek kannte das Quartett. Er hatte es sogar schon mal mit Paule gesungen.
    »Kimmich darf doch überhaupt keine Musik machen«, krähte ein Kleiner.
    »Aufführen darf er nicht, aber schreiben kann er, so viel er will!«, gab Antek aufgebracht zurück.
    Ein Schüler riss ihm das Blatt aus der Hand und lief damit zum Flügel. Abgehackt und kümmerlich begann er zu

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