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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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geschoben. Er klappte die Hacken zusammen und versuchte seinen Worten den Anschein einer Meldung zu geben. Das missbilligende Murmeln der Kameraden überhörte er. Seine Backen leuchteten rot in Erwartung weiterer Fragen. Aber Jähde begnügte sich damit.
    »So«, sagte er zu Antek, »du warst es!«
    »Ich muss sie aus Versehen mitgenommen haben, Herr Rektor.«
    Jähde winkte ab. »Dafür kannst du’s aber schon ganz hübsch singen, nicht?«
    Jähde fuhr fort: »Zu mir kommen, unbedingt Soldat spielen wollen und in Wirklichkeit sich bei solchen Miesmachern wie diesem Kimmich herumtreiben und mir noch mit dessen Friedensliedchen kommen. Hat er dich dazu angestiftet?«
    Antek konnte sich kaum beherrschen. In die Fresse müsste man diesem aufgeschwemmten Schwein schlagen, dachte er. »Nein, Herr Rektor«, hörte er sich stattdessen höflich sagen, »ich habe die Noten ebenso wenig wie die anderen vorher gesehen oder gesungen.«
    Willi legte den Kopf schief, als wenn er nur auf diese Lüge von Antek gehofft hätte, um sie richtigzustellen. Aber er kam nicht dazu. Ein stechender Schmerz fuhr in sein Hinterteil und fraß sich fest.
    »Wir haben sie zwischen unseren Mappen gefunden und bloß so aus Neugier vom Blatt gesungen«, sagte Paule statt seiner.
    Willi glaubte den Schmerz nicht mehr ertragen zu können. Er tastete hinter sich und fühlte Paules Hand, die mit festem Griff einen Nagel zwischen die Nähte seiner Hose bohrte.
    »So«, sagte Jähde gedehnt, »nur so vom Blatt gesungen. Na, das möchte ich bezweifeln.«
    Er kam auf Willi zu. »Du hast nicht mitgesungen?«
    Der Nagel zuckte.
    »Nein«, stöhnte Willi.
    Jähde hielt ihm das Blatt vor die Nase. »Na los! Mal sehen, ob deine Freunde gelogen haben.«
    Paule trieb den Nagel ein Stück weiter in Willis Hinterteil.
    »Jeder hat’s gehabt, keiner hat’s geschätzt …«, schrie Willi. Paule erbarmte sich nicht. Tränen erstickten Willis Stimme.
    Jähde entriss ihm das Blatt. »Seit wann grölst du so?«
    Willi war nicht fähig, auch nur ein Wort zu sprechen. Er wankte an den Flügel, beide Hände auf den brennenden Hosenboden gedrückt.
    »Aber er hat richtig gesungen«, antwortete Paule triumphierend.
    Willi atmete schwer. Seine Blicke versprachen Paule tausendfache Rache. Aber der zeigte ihm nur die Spitze seines Vierzöllernagels und gab noch eine Daumenbreite dazu.
    »Bis dahin«, flüsterte er.
    Willi schloss die Augen.
    Jähde glaubte, bei den Schülern nur Zeit zu verlieren. Es war an der Zeit, nach Nagold zu sehen und zu ergründen, wieso er nicht die Chorprobe abhielt und ob er über das Singen von Kimmichs Chören innerhalb des Alumnats orientiert war. Er gab den Kindern eine für Ruhe sorgende Strafarbeit auf und verließ den Singsaal mit dem Gefühl, endlich den wahren Zusammenhängen von Nagold und Rektor Kimmich auf der Spur zu sein.

Der Bauernwagen, in dem der kranke Mann auf seiner Strohschütte lag und sterben wollte, kam gerade noch bis vor den Brunnen. Dann löste sich der Radreifen und schlug klappernd gegen die steinerne Brüstung. Eine Frau kroch aus dem Wageninneren, stützte sich müde auf den Pferderücken und beugte sich über das Rad. In der Felge klaffte ein Riss. Die Frau wusste, dass sie so nicht mehr weiterkommen würde.
    »Jetzt ist es aus«, hörte der Bauer ihre dünne Stimme zu dem fremden Mädchen sagen, das sie mitgenommen hatten. Er wälzte sich mühsam auf den Rücken. Es war gut, zu sterben, wenn der Wagen nicht rumpelte. Wenn ihn der Tod nur nicht wieder betrog. Jedes Mal, wenn der Wagen anhielt, hatte er geglaubt, sterben zu dürfen. Er schloss die Augen und dachte an zu Hause.
    Die Bäuerin schlug die Plane hoch. Licht verjagte das wärmende Dunkel um ihn.
    »Jetzt sitzen wir fest«, sagte sie mürrisch. Sie zupfte ihm ein paar Strohhalme aus den Bartstoppeln.
    »Ich will sterben«, flüsterte der Bauer böse.
    »Ach, das sagst du jeden Tag und lebst immer noch. Dort drüben …«, sie wies nach dem Alumnat, »das große Haus, das ist sicher ein Krankenhaus. Da wird man dich operieren und wieder gesund machen.« Sie ließ die Plane wieder zurückfallen. Jetzt wird sie in das Krankenhaus gehen, damit man mich gesund macht, dachte er wütend. Er hob den Kopf und hörte ihren schlurrenden Schritt. Er blinzelte. Durch den Spalt der Plane sah er von unten den Kopf der Brunnenfigur und glaubte, es sei ein Denkmal des Führers. Er konnte die weißen Spuren der Tauben auf dessen Schultern erkennen.
    »Siehst du«, murmelte

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