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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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spielen.
    Die Kinder grölten. »Das ist doch keine Musik! Kein Wunder, wenn der Aufführungsverbot hat.«
    Antek sprang zum Flügel.
    »Hör auf, du hast wohl noch nie Noten gelesen, was?«
    Er hob ihn vom Klavierstuhl und winkte Paule.
    »Komm, sing mit, du kennst das auch.«
    Paule, der auf eine Versöhnung mit Antek aus war, kam bereitwillig, Zick im Gefolge. Erst probierten sie leise, dann gab Antek den Einsatz.
Jeder hat’s gehabt, keiner hat’s geschätzt.
    Jeden hat der süße Quell gelabt …
    Oh, wie klingt der Name Friede jetzt!
    Klingt so fern und zag,
    Klingt so tränenschwer,
    Keiner kennt und weiß den Tag,
    Jeder sehnt ihn voll Verlangen her.
    Die Jungen setzten sich auf ihre Plätze und lauschten dem Gesang.
    »Singt die Stelle noch mal«, unterbrach ein Schüler. »Das ist großartig, so was müssten wir mal in der Kirche singen!« Begeistert sah er über Anteks Schultern in die Noten. »Wer kann noch vom Blatt singen?«, rief er. »Bis Nagold kommt, können wir es. Vielleicht gefällt es ihm.«
    »Aber wenn man doch nichts vom Kimmich singen darf«, maulte Willi dazwischen.
    Einige Schüler gaben ihm Recht.
    »Ich denke, hier geht’s um Musik und nicht um die politische Einstellung des Komponisten. Schließlich war Kimmich mal Rektor des Alumnats, das vergesst ihr wohl!« Antek sprach es laut und deutlich. Ihm war, als könnte er damit an Ruth wieder das gutmachen, was er glaubte, versäumt zu haben. »Also«, er hob die Hände und gab das Zeichen. Noch vorsichtig, aber dann mit gewohnter Sicherheit setzten die Stimmen ein.
Jeder hat’s gehabt, keiner hat’s geschätzt …
    Nagolds Brüllen auf dem Gang war bis in Jähdes Arbeitszimmer gedrungen. Er hatte sich das merkwürdige Verhalten des Lehrers nicht erklären können. Allein dass Nagold am Vormittag einer Mutter aus eigenem Ermessen gestattet hatte, einen Schüler aus dem Internat zu nehmen, hatte ihn misstrauisch gemacht. Und nun brüllte er auf dem Flur oben, als könnte es dafür einen Grund geben. Jähde hatte es sich zum Gesetz gemacht, jeder zweifelhaften Situation sofort nachzugehen. Nur so behielt man die Zügel in der Hand, nur so war das Übel der Gefahr an der Wurzel zu packen.
    Das Treppenhaus war leer. Jähde betrachtete den Stuck an den Wänden. Nach dem Endsieg wollte er ihn durch moderne Freskenmalerei ersetzen. Vielleicht könnte man unten in der Halle ein Bild von ihm als Rektor in Uniform aufhängen und damit die stolze Reihe der Alumnatsrektoren des Dritten Reiches beginnen. Jähde liebte solche Vorstellungen. Sie waren ihm in Zeiten des Misstrauens und des Kampfes eine seelische Erholung. Es dauerte eine Zeit, bis Jähde Kimmichs Motette hörte. Er hatte schon längst den Wohlklang der Töne verfolgt und mit der Hand, die eben noch ärgerlich das Fenster geschlossen, unbewusst die Rhythmen mit mechanischer Genauigkeit auf das Fensterkreuz geklopft.
Jeder hat’s gehabt, keiner hat’s geschätzt …
    Jähdes Wachtraum zerplatzte wie eine Seifenblase. Was war das für Musik? Das gehörte weder in das Repertoire des nationalsozialistischen Sangesgutes noch zu der von Nagold geschätzten Kirchenmusik. Jähdes musikalischer Instinkt wies ihm die Richtung. Hier konnte es sich nur um eine Komposition von Kimmich handeln. Jähde kannte sie gut aus seiner Lehrerzeit unter dessen Direktorium. Schnell war damals sein erster Anflug von Bewunderung in Neid umgeschlagen, und Kimmich hatte es Jähdes Hass zu verdanken, dass seine Chorkompositionen als entartete Musik hingestellt und verboten wurden.
    Jähde riss die Tür auf. Die Kinder bemerkten ihn im ersten Augenblick nicht. Im Vordergrund hatten sich mehrere Jungen um den am Flügel sitzenden Antek geschart. Ihre Augen waren auf Antek gerichtet, der mit dieser Musik vertraut war. Jetzt winkte er Paule den Einsatz zu, beide sangen allein. Jähdes Schritt knallte in die Musik. Es war, als wenn er jeden einzelnen Ton mit dem Fuß zertreten wollte. Antek fand so schnell keine Möglichkeit, die Blätter zu verstecken.
    »Wie kommt ihr zu diesen Noten?«, fragte Jähde.
    Wenn er so leise sprach, war das immer ein Zeichen besonderer Gefahr. Zick, der ihm am nächsten stand, schloss die Augen. Wollte denn heute das Unglück gar kein Ende nehmen? Schon fühlte er die Hand des Rektors im Schopf.
    »Na, woher?«, fragte Jähde.
    »Ich weiß das nicht«, stotterte Zick los, »ich habe überhaupt noch nie Noten geholt.«
    »Antek war’s«, unterbrach Willi.
    Er hatte sich nach vorne

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