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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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Seine Unterlippe hing ihm herab.
    Mit der andern Hand malte er kleine Gitter auf das Pult.
    Paule rechnete, saß mit hochgezogenen Beinen auf dem Fensterbrett und malte ebenfalls. Nur keine Gitter, sondern Zahlen. Man müsste dem Juden ein Geschäft anbieten. Eventuell ein paar Würste. Dann würde er vielleicht genauso schnell und spurlos verschwinden, wie er gekommen war. Juden sollten angeblich geschäftstüchtig sein. Wenn bloß Willi mit seinem Meldefimmel nicht verrückt spielen würde. Mal sehen, ob man nachher vernünftiger mit ihm reden könnte. Wenn Willi jetzt nicht den Schlüssel hätte, wäre die Sache einfacher.
    Paule hatte den Ärger über Antek vergessen. Er sah zu dem Freund hinüber.
    »Antek?«
    »Was ist?«
    »Wenn du Paule beim Mittag nicht das Geschäft vermasselt hättest, dann hättest du jetzt den Schlüssel und Willi könnte nicht machen, was er will.«
    Antek zuckte die Schultern. »Du denkst bloß ans Fressen!«
    »Natürlich«, sagte Paule, »davon soll man bekanntlich leben.«
    Antek drehte Paule den Rücken zu, er hatte keine Lust, mit dem Freund über Würste zu reden. Er fühlte noch Ruths vorwurfsvollen Blick. Sie hatte erwartet, dass er sich gegen die Freunde für den Fremden einsetzt. Er hatte es vorgezogen, abzuwarten.
    Eigentlich habe ich mich benommen, wie Nagold es sein Leben lang getan hat, schoss es ihm durch den Kopf. Mit ansehen, warten, nichts dafür, nichts dagegen tun. Ruth war mutiger gewesen. Ob sie jetzt bei dem Juden war? Wenn sie an das Kellerfenster kroch, konnte sie zu ihm hineinsehen. Diese Vorstellung ließ seine Eifersucht hellwach werden. Wer war schon dieser dreckige Jude? Er nahm sich vor, in der nächsten freien Minute zu Ruth zu laufen, mit ihr zu reden.

Die Stille des Kellers war voller Geräusche. Abiram stand bewegungslos und lauschte. Durch den Kamin im Mauerwerk zog dumpfes Kratzen. Es kam vom Ofenrohr an der Wand im ersten Stock. Ein Wasserhahn tropfte in gleichmäßigem Abstand. Jetzt wurden die Abstände kürzer, die Tropfen größer. Abiram jagte hoch. Vielleicht war in dem Keller ein Rohrbruch und in Stunden würde alles überflutet und er ertrunken sein? Er ging dem Tropfen nach. Hinter den Regalen war die Dunkelheit undurchdringlich. Oben an der Wand sah er einen großen, schwarzen Fleck. Das musste Wasser sein, dort kam das Tropfen her. Abiram schwang sich über einen Mauervorsprung auf ein Brett. So konnte er die Kellerdecke berühren und den Fleck. Aber es war kein Wasser. Hier war nur der Putz heruntergefallen. Das Tropfen musste woanders herkommen. Abiram kroch wieder herunter. Er legte sich auf die Kartoffelkiste. Über ihm an der Wand hingen Würste und Speckseiten. Bei ihrem Anblick stieg in ihm Übelkeit hoch. Der Geruch der Räucherwaren wurde zum Gestank. Die Reihen mit Kompott und Marmeladen standen dicht. Abiram kniff die Augen zusammen. Aus den Kompottgläsern wurden Menschen, aus den schmalen Himbeerflaschen Aufseher, aus dem Regal eine Turnhalle. So hatten sie dagestanden, Männer, Greise, Frauen, Kinder. Tag und Nacht, Tote wie Lebendige. Er sah die Aufseher ihre Knüppel schwingen. Aus dem Tropfen im Keller wurden Schüsse in der Turnhalle. Aus dem Kratzen das Schlagen der Stöcke. Aus dem Fiepen der Mäuse Geschrei der Kinder. Dort der alte Mann, auf dessen Bauch ein Kind hing und schrie. Eine Frau trat ihm ins Gesicht. Wieder sausten Schläge, es wurde gezählt, es stank nach Unrat, Blut und kranken Menschen. Wenn doch der tote alte Mann wenigstens die Augen geschlossen hätte. Er starrte. Abiram sah die Mutter. Sie war mutig, sie war jung. Sie hatte hinten in der Ecke eine Nebentür entdeckt, die nicht immer bewacht wurde. Sie hoffte, dort den Weg zur Flucht vor dem Tod zu finden. Abiram hielt die Hände vors Gesicht. Er wusste, was jetzt kam. Die Mutter würde mit ihm durch die Tür wollen. Aber dahinter standen Aufseher mit Peitschen und Revolvern. »Ich hab doch gesehen, dass du erschossen worden bist, Mutter«, murmelte Abiram, »mach es doch nicht wieder. Es gibt keinen Ausweg.« Aber die Mutter ließ sich nicht belehren. Sie schüttelte den Kopf, sie lachte sogar und winkte. Sie öffnete die Tür und im selben Moment schrie sie auf: »Abiram! Abiram!« Es war, als wenn ein Schuss ihren Ruf getroffen hätte, die Stimme wurde leiser. Er konnte sie nicht mehr sehen. »Ich wusste es ja«, schluchzte er, »warum machst du es immer wieder?«
    Das Flüstern hörte nicht auf. Abiram fuhr hoch. Da war es: »Abiram,

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