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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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zugelassen, dass er eingesperrt wurde?«
    Antek war ungeduldig: »Weil wir jetzt Probe haben. Wir müssen doch erst überlegen, was wir mit ihm machen.«
    »Ist die Probe wichtiger? Möchtest du da unten sitzen?«
    »Kann ich dafür«, schrie Antek ehrlich wütend, »dass er ein Jude ist und Willi ein überkandidelter Hitlerjunge?«
    Ruth wandte sich wortlos ab und nahm einen anderen Weg heimwärts. Antek musste sich beeilen, um die Freunde einzuholen, die über die Steinbrocken stolperten. Sie sprangen über Gräben und Bombenlöcher, aber die Zeit war nicht mehr einzuholen.
    »Was sagen wir dem Nagold?«, keuchte Paule.
    »Gar nichts!«
    »Warum nicht gleich die Wahrheit?«, schlug Willi vor.
    »Wenn du dir das Deutsche Kreuz in Gold mit Messern und Klickern, von Adolf persönlich überreicht, verdienen willst, dann aber nicht auf Paules Kosten. Wegen deinen Vaterlandsgefühlen fress ich keine Wassersuppe. Du …«, und Paule hielt Willi drohend sein Kupferrohr vors Gesicht.
    »Ich hab Seitenstiche«, japste Zick.
    »Ach was«, Antek zog ihn weiter, »Angst hast du. Entweder machst du mit oder nicht. Gekniffen wird nicht.«
    Sie wischten sich den Schweiß vom Gesicht und klopften den hellen Trümmerstaub von den Schuhen.
    »Was sagen wir bloß dem Nagold?«, jammerte Zick wieder los.
    Keiner gab ihm Antwort. So trottete er hinter den Kameraden her und über die Straße, zwischen Wagen und Flüchtlingen hindurch, und meinte, jeder Mensch müsse es ihnen ansehen, dass sie im Keller einen Juden versteckt hätten.

Nagold hatte voller Ungeduld gewartet. Noch nie war es vorgekommen, dass Schüler die Freizeit um eine halbe Stunde überschritten. Keines der anderen Kinder konnte ihm einen Anhalt geben. Nur einer hatte Antek gleich nach dem Mittag über den Marktplatz laufen sehen. Das war alles. Ohne die vier Jungen war eine Probe zwecklos, da er auf jede Stimme angewiesen war. Paule hatte überdies noch das Solo zu singen. Nagold schritt im Singsaal auf und ab. Was mochte das bedeuten? War es eine Ungehorsamkeit Anteks, der nach der Unterredung mit ihm voller Trotz steckte? War den Kindern etwas zugestoßen? Nagold unterbrach seinen Schritt. Wenn jetzt Jähde kommt und eine Erklärung fordert, wo die Jungen sind? Nagold erteilte einem der Kinder die Klassenaufsicht und verließ den Saal.
    Die Fenster des Flurs gingen nach der Marktseite. Nagold beugte sich hinaus und sah Zick als Letzten um die Straßenecke biegen. Erleichtert atmete Nagold auf. Jetzt erst merkte er den stechenden Schmerz in seinem Beinstumpf. Das pausenlose Auf-und-ab-Gehen hatte ihn angestrengt. Nagold sah über die Galerie die vier Jungen hereinschleichen. Sie liefen auf Zehenspitzen und flüsterten sich etwas zu. Nagold stützte sich auf das Geländer, um sein Bein zu entlasten. War es nicht ein Wahnsinn, hier zu stehen, um vier Kinder zu strafen, weil sie zu spät in den Unterricht kamen, während ein paar Kilometer weiter ihre Väter starben? Zick erreichte als Erster die Treppe. Nagold war durch einen Pfeiler verdeckt, so dass die Kinder glaubten, allein im Treppenhaus zu sein.
    »Wenn uns bloß nicht der Jähde erwischt«, wisperte Zick.
    Nagold musste lächeln. Seine Angst vor Jähde war kaum geringer als die der Kinder.
    »Wo wart ihr?« Es klang nicht einmal streng.
    Die Jungen fuhren zusammen. Zick rutschte bis an den letzten Platz in der Reihe der Freunde zurück. Keiner gab Nagold eine Antwort. Schweigend standen sie auf den untersten Stufen, machten nicht die geringsten Anstalten heraufzukommen. Verlegen schauten sie Nagold an, der darauf wartete, dass einer von ihnen eine Erklärung vorbrachte. Seine Prothese stand ungelenk neben dem gesunden Bein, wie stets, wenn er starke Schmerzen hatte.
    »Ihr habt euch um eine halbe Stunde verspätet«, sagte er mit quälender Ruhe.
    »Ja«, kam es von Antek. Die anderen Jungens waren froh, dass überhaupt einer etwas sagte. Sie nickten und zogen die Köpfe ein, als wären sie geprügelte Hunde. Nagolds Ruhe vergrößerte ihre Ratlosigkeit noch mehr. Sie wussten zwar, dass es nicht seine Art war, durch Zorn oder Drohungen Klarheit zu schaffen, aber in diesem Falle wäre ihnen eine handfeste Abreibung lieber gewesen.
    Aber Nagold verlangte eine Erklärung, ja, er schien ihnen kameradschaftliches Verständnis entgegenbringen zu wollen. Dazu kam, dass es ihm körperlich nicht gut ging. Das hatten alle vier Jungen sofort gesehen.
    »Also, Paule«, forderte seine Stimme. Paule sah zur Seite und

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