Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
Vom Netzwerk:
der Bauer, »nun bist du auch angeschissen.« Er legte sich so, dass er den Kopf mit dem Taubenunrat nicht sah. »Aber deswegen lass ich mir von dir nicht in den Sarg gucken.« Er rollte sich wieder zur Seite. So lag er gut, nur das Stroh stach ihn ins Gesicht. Warum war die Frau bloß in das Krankenhaus gelaufen, wo er schon im Sarg lag, in einem von zu Hause mitgebrachten? Ich habe noch nicht fremden Boden berührt, dachte der Bauer, ich bin noch immer zu Hause. Er öffnete sein rechtes Auge und sah Kisten, Säcke, Bettzeug und seine Kaffeeflasche. Bald zwanzig Jahre war er mit ihr jeden Tag aufs Feld gezogen, hatte daraus seinen Durst gelöscht oder im Winter wärmenden Korn getrunken. Es wäre schön, jetzt noch vor dem Sterben einen letzten Schluck zu nehmen. Der Bauer hatte seit Tagen weder gegessen noch getrunken.
    Das fremde Mädchen griff unter die Plane und zerrte seinen Rucksack hervor. Es war an der Zeit, sich nach einem anderen Treckwagen umzusehen. Mit dem zerbrochenen Rad war kaum auf ein Weiterkommen mit den Leuten zu rechnen. Sie wollte den Bauern auf seinem Stroh nicht stören und so tastete sie vorsichtig nach ihrem Gepäck.
    Der Bauer sah die weißen Hände durch die Plane fassen. Es wurde ihm doch ein wenig unheimlich. Er hatte nicht geglaubt, dem Tod leibhaftig ins Antlitz sehen zu müssen. Er lag ganz steif und starrte. Wenn ich nur meine Kaffeeflasche hätte. Die Hände kamen immer näher, bis an seine Füße. Jetzt streckten sie die Finger aus und packten den Rucksack.
    Ärgerlich richtete sich der Bauer auf. Er glaubte, den schlurrenden Schritt zu hören, die Stimme des Doktors und Männer mit einer Trage. Er rief, aber es war nur ein Flüstern. So trat er heftig auf die weiße Hand. Entsetzt schrie das Mädchen auf. Sie schlug die Plane zurück und sah in das fahle Gesicht des Bauern. Schweiß tropfte ihm aus den Stoppeln und die wimperlosen Augen irrten hin und her. Sie bekam Angst und sah sich um. Die Frau war noch nicht zurück.
    Der Bauer bewegte die Lippen. »Gib mir die Kaffeeflasche von der Runge.«
    Das Mädchen kroch in den Wagen, fand aber nichts, weil sie gar nicht wusste, was eine Runge ist. »Ich seh nichts«, begehrte sie auf. »Ihre Frau kann Ihnen das suchen, ich muss weiter.«
    Der Bauer schüttelte heftig den Kopf. Er rutschte seitwärts, um ihr zu zeigen, dass er sie nicht aus dem Wagen ließe, bis er seine Feldflasche hätte, oder sie müsste über ihn hinwegsteigen. Endlich sah sie einen verbeulten Emaillekrug am oberen Wagenpfosten.
    »Dann geht’s ja wieder aufwärts«, sagte das Mädchen und gab dem Mann die verbeulte Emailleflasche. »Gute Besserung«, rief sie und war mit einem Sprung aus dem Wagen.

Die Frau hatte nur einen kurzen Augenblick vor dem Alumnat gestanden. Sie war überzeugt, dass dieses Gebäude mit den großen Fenstern ein Krankenhaus sei. Sie trat durch die Tür und blieb im Treppenhaus stehen. Nagold kam die Stufen heruntergehumpelt. Er beachtete die Frau nicht weiter. Es kamen täglich fremde Menschen hier herein und fragten nach Obdach und Brot.
    Er hatte erst in seine Wohnung gehen wollen, aber die Vorstellung, dort die vor Angst weinende Margot zwischen den halb gepackten Koffern vorzufinden, hatte ihn abgehalten. So irrte er durch die Flure, verfolgt von der Erkenntnis, dass er das Vertrauen und die Liebe Anteks verloren habe.
    »Sind Sie der Doktor?«
    Er sah in das runde Gesicht der Frau, die eben hereingekommen war. Die fettigen Haare waren straff zurückgekämmt. Der Dutt ragte spitz unter dem Wolltuch hervor. »Mein Mann ist krank«, redete die Frau in ihrem schlesischen Dialekt, ohne eine Antwort Nagolds abzuwarten. »Der Doktor zu Hause hat gesagt, der Bauer hätt’s im Gedärm, und lange wird er’s nicht mehr machen, wenn man ihn nicht operieren tut. Wir wollten zu meiner Schwester nach Kassel machen. Jeden Tag meint er, er wird sterben. Aber nu ist mir das Rad am Wagen kaputtgegangen und der Treck von unserem Dorf ist schon durch. Da hab ich gedacht, Sie können mir helfen, Herr Doktor, dass mein Mann nicht sterben wird.«
    »Ich bin kein Doktor«, sagte Nagold in eine Atempause hinein. Er wusste nicht, ob die Frau ihm lästig war oder ob sie ihn in ihrer Einfalt rührte.
    »Wo ist er dann, der Herr Doktor?«
    »Was für ein Doktor denn, um Gottes willen?«
    »Na, der Herr Doktor hier von dem Krankenhaus!«
    »Das ist hier kein Krankenhaus, das ist ein Alumnat, eine Knabenchorschule, hier wird singen gelernt.«
    »Singen gelernt«,

Weitere Kostenlose Bücher