Stern ohne Himmel
Rektor warte bereits ungeduldig, fügte er vertraulich hinzu und hätte gern erzählt, was er wusste. Aber Kimmich ließ ihm dazu keine Gelegenheit. Er öffnete unhöflich die Tür und sagte: »Ich komme gleich. Das kannst du dem Herrn Rektor Jähde bestellen.«
Kimmich konnte nur mühsam seine Nervosität vor dem Kind verbergen. Aber sobald er allein war, packte ihn die Erinnerung. Damals war es Nacht und vor ihm stand ein Polizist. Wie heute der Schüler, war auch der Polizist auf Veranlassung des Parteigenossen Jähde gekommen. Kimmich hatte noch nicht geschlafen. Auf seinem Schreibtisch lagen Chorauszüge aus »Judas Maccabäus« von Händel, die er zur Vorbereitung eines großen Singabends gerade durchgearbeitet hatte. Grußlos, ohne ein Wort der Erklärung, kam der Polizist herein. Kimmich kannte ihn gut, denn sein Bruder war vor Jahren einer seiner besten Schüler gewesen.
»Wollen Sie mir nicht sagen, was Ihr Auftritt zu so später Stunde bedeuten soll?«, fragte Kimmich leicht amüsiert. Nicht einmal der Gedanke einer persönlichen Gefahr warnte ihn.
»Werden Sie nicht privat, Mann«, antwortete der Polizist und stiefelte breitspurig im Zimmer umher. Er zog Schubladen auf, öffnete Schränke, warf Bücher um und tat alles, in höchster Geschwindigkeit eine sagenhafte Unordnung anzurichten.
»Können Sie nicht endlich mit diesem Theater aufhören?« Kimmich sagte es mit spürbarem Verdruss. Es war ihm nicht entgangen, dass der Polizist seine Unsicherheit durch freches Benehmen verbarg und dabei unentwegt nach der Tür schielte, als erwarte er noch jemanden.
»Nein, das kann er nicht«, antwortete Jähde an Stelle des Uniformierten mit schneidender Stimme, »er ist nämlich im Dienst!«
Damit war Jähde im Zimmer. Allem Anschein nach hatte er die ganze Zeit vor der Tür gestanden, um das Stichwort für seinen Auftritt abzuwarten. Jetzt ging er zum Schreibtisch, und nach der Zufriedenheit seines Gesichtes schloss Kimmich, dass Jähde das Gesuchte gefunden hatte.
»Das genügt für die Verhaftung.«
Jähde reichte die Noten aus »Judas Maccabäus« dem Polizisten zur Verwahrung.
»Sind Sie wahnsinnig, Jähde?«, schrie Kimmich.
Aber der wendete nur peinlich berührt den Kopf zur Seite. »Warum machen Sie Schwierigkeiten, Kimmich? Es ist nur zu Ihrem Nachteil«.
Der Polizist legte ein Schriftstück auf den Schreibtisch. »Der städtische Angestellte I. Kimmich wird in Schutzhaft genommen, da die Gefahr besteht«, las Kimmich, »dass er von seiner Freiheit gegen den nationalsozialistischen Staat und seine Einrichtungen Gebrauch machen würde.«
Dann ging alles in rasender Eile. Er durfte Waschzeug mitnehmen, aber weder Kleider noch Wäsche. Selbst das Bild seiner verstorbenen Frau wollte man ihm nicht lassen. Handschellen schnappten um seine Gelenke und wenige Zeit später fand er sich in der Zelle der städtischen Polizeiwache wieder. Dort saß er Tage und Nächte, ohne mit einem Menschen sprechen zu dürfen, ohne zu wissen, wohin diese Verhaftung führen würde. Wortlos schob man ihm täglich das Essen durch die Tür, und auf seine Bitten, man möge ihn doch wenigstens mit einem Rechtsanwalt sprechen lassen, antwortete ihm schnödes Gelächter. Nach einer Woche peinigender Ungewissheit wurde er in einem Polizeiauto abtransportiert, ohne seine Tochter oder einen Bekannten benachrichtigen zu können. Aber das alles blieb nur ein harmloser Auftakt zu dem, was ihn dann im Konzentrationslager erwartete. Es begann mit der Vernehmung. Ein hünenhafter SS-Scharführer schlug ihn mit einer Peitsche auf den Kopf. Das sollte für Kimmich die Aufforderung sein, eine ordnungsgemäße Meldung zu machen. Er begriff es nicht. Ein zweiter Schlag traf ihn an der Kehle.
»Melden!«, brüllte der Scharführer.
Kimmich murmelte seine Personalien.
»Lauter!«, und wieder traf die Peitsche. Kimmich wiederholte. Aber er machte den Fehler, seinen Beruf wahrheitsgemäß mit »Rektor des Knabenchores« anzugeben.
Grölen erfüllte die Schreibstube. Weitere SS-Männer waren hinzugekommen, sie wollten sich ausschütten vor Lachen. »Na, dann sing uns mal was vor, du Knabenrektor«, brüllten sie.
Einer begann Kimmich die Kleider vom Leibe zu reißen, bis er völlig entblößt den Männern gegenüberstand. Der Scharführer gebot Ruhe.
»Du hast deine Knäblein verbotene Musik singen lassen, du Volksbetrüger! Und du hast dich gewehrt, deinen Chor in den Dienst des nationalsozialistischen Staates zu stellen!«
Abermals
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