Stern ohne Himmel
Gruß erwidert hatte.
»Ich denke, es gibt wichtigere Dinge zu tun!«, antwortete Nagold.
»Das Denken überlassen Sie mir. Ich wünsche, dass gesungen wird. Ich will alles vermeiden, was eine Panikstimmung auslösen könnte. Seit Jahrzehnten wird am Freitagnachmittag gesungen, also auch heute. Verstanden?«
Zick sah, wie Nagold den Kopf beugte. Aber schon fuhr Jähdes ausgestreckte Hand vor Zicks Blickfeld.
»Da gibt es noch eine andere Sache. Heute war Zick auf dem Einwohnermeldeamt. Er hat dort auf lächerliche Weise versucht, nach Arthur Dressler zu fragen. Wissen Sie, wer das ist?«
Mehr hörte Zick nicht. Er lief in panischem Schreck davon.
»Ist das nicht ein Mann, der mit Kimmich aus dem Arbeitslager entlassen wurde?«, fragte Nagold.
»Stimmt. Aber gegen diesen Mann läuft wegen Wehrzersetzung abermalig Haftbefehl. Kimmich steckt mit ihm unter einer Decke, und dass Zick beim Ortsgruppenleiter nach Dressler gefragt hat, ist ein Beweis für mich, dass Kimmich jetzt auch meine Schüler in sein schmieriges Werk eingespannt hat. Gestern die Motette, heute das! Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?«
Nagold verstand Jähdes Ausführungen über Kimmich und dessen Einfluss auf die Kinder nicht. »Wenn Kimmich durch die Jungen eine Verbindung zu diesem Dressler halten wollte, dann würde er doch Zick nicht zum Ortsgruppenleiter schicken und nach der Adresse fragen. Was soll das für einen Sinn haben?«
»Danach habe ich Sie nicht gefragt, Nagold. Sie haben eine Eigenschaft, wichtige Dinge so hinzustellen, dass sie völlig harmlos erscheinen. Das wirft kein gutes Licht auf Sie!«
Nagolds Gesicht wurde verschlossen. Sollte Jähde machen, was er wollte. Er sah keine Veranlassung, sich in Dinge einzumischen, deren Sinnlosigkeit schon von Anfang an zu durchschauen war.
»Ich wünsche ein Verhör der Jungen. Und zwar hier mit Ihnen.«
»Was hab ich damit zu tun?«
»Das werde ich feststellen!«
Es dauerte eine Weile, bis Nagold Jähde davon überzeugte, dass ein Verhör, wie Jähde sich ausdrückte, vor dem Vespersingen unmöglich war. Wie sollten die Kinder singen und Disziplin wahren, wenn Jähde sie kurz vorher wegen Spionageverdacht beschuldigte. Schließlich erklärte sich Jähde damit einverstanden, nach dem Singen in der Kirche mit den Jungen zu reden.
Zick war zu den Freunden gelaufen. Sie hatten sich umgezogen und standen in ihren dunklen Hosen und weißen Blusen vor dem Alumnat, um in die Kirche zu gehen. Unter den Fremden hatte es sich herumgesprochen, dass der Knabenchor sein traditionelles Singen in der Kirche abhalten würde. Vielleicht war es das letzte Mal.
Zick zog Paule und Antek zur Seite. Antek winkte ab. »Hier nicht! Kommt weiter weg.«
Sie gingen in den seit langer Zeit unbenützten Kreuzgang, wo sie sich unbeobachtet fühlten.
»Also, erzähl!«, forderte Antek auf.
»Ich hab heute auf dem Einwohnermeldeamt nach Dressler gefragt«, begann Zick atemlos.
»Einwohnermeldeamt«, seufzte Paule und schnitt eine Grimasse.
»Weiter!«, sagte Antek.
»Nichts weiter. Der Ortsgruppenleiter fragte, wer mich geschickt hätte.«
»Ach, zu dem bist auch gleich gegangen?« Paule schlug die Hände zusammen.
»Er wollte es dem Jähde sagen«, jammerte Zick, »und da hab ich an der Tür gehorcht.«
Paule nickte. »Deshalb bist du vorhin da rumgekrochen!«
»Und was hast du gehört?«, fragte Antek.
»Nagold sollte Jähde erklären, warum ich nach Dressler gefragt hätte. Jähde war sehr böse.«
Zick sah die Freunde ängstlich an. »Ob Jähde schon von Abiram weiß? Vielleicht hat Willi gequatscht oder Ruth?«
»Ach was«, wehrte Antek ab.
Die Glocken begannen zu läuten und übertönten jedes Wort.
»Ich renn zum Stadttor und warne Abiram«, schrie Paule. »Wenn Nagold fragt, dann erfindet irgendeine Ausrede, Klo, oder ich kotze, oder was ihr wollt. Wenn ich Abiram erwische, ist es gut. Wenn nicht, dann ist tatsächlich was passiert.«
Paule stob den Kreuzgang entlang. Seine Absätze knallten auf den Fliesen, und als er über die Gebetbänke sprang, zog Antek unwillkürlich den Kopf ein. Zick schlug ein winziges Kreuz auf seiner Brust.
Nagold kam mit den Schülern über den Platz. Unauffällig mischten sich Zick und Antek in ihre Reihen. Still betraten sie die Kirche und stiegen zur Orgel. Es war ein dämmriges Licht, die meisten Fensterscheiben der Kirche waren zersprungen und mit Pappe geflickt. Nagold ließ die Kerzen anzünden und sah, dass Paule fehlte. Fragend blickte er Antek
Weitere Kostenlose Bücher