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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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der Front auslöste. Aber er, Jähde, würde die Nerven behalten. Klarer denn je sah er seine Aufgabe, in der Heimat wachsam zu sein und Leuten wie Kimmich und Genossen das Handwerk zu legen.
    Jähde zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er wollte nicht gestört werden. Er musste jetzt einen Plan ausarbeiten, wie er Kimmich, Dressler und deren Gesinnungsgenossen in die Falle locken konnte. Er musste aus den Jungen herausbekommen, wer von ihnen als Spürhund von Kimmich eingesetzt worden war.
    Die Fensterscheiben klirrten unter dem Donner der Artillerie. Seit den Vormittagsstunden war das Dröhnen näher gekommen. Mehr und mehr Soldaten mischten sich unter die Flüchtlinge. Aber das sah Jähde nicht – er wollte es nicht sehen.
    Es klopfte.
    Paule fragte, ob das Vespersingen in der Kirche stattfinden solle.
    »Natürlich wird gesungen, oder hat Herr Nagold Angst?« Jähde warf wütend seinen Bleistift auf den Schreibtisch.
    »Das glaube ich nicht«, meinte Paule, »es ist nur wegen der nahen Front …!«
    »Wer hat das gesagt?«, unterbrach ihn Jähde. »Schick ihn mir mal her, den Herrn Nagold. Ich möchte ihm selber meine Ansicht mitteilen. Auf jeden Fall wird gesungen und ihr zieht wie immer eure Choranzüge an!«
    »Jawohl!« Paule nahm militärische Haltung an und ging. Er stieß mit Zick zusammen, der sich dicht vor der Tür herumdrückte.
    »Was machst du denn hier?«
    »Nichts.« Zick wurde rot.
    Paule beugte sich zu dem Kleinen. »Ich hab nichts rausgekriegt. Nicht mal beim Pfarrer. Der hat bloß dummes Zeug geredet. Und du?«
    Zick vermied es, Paule anzusehen. »Ich auch nicht.«
    Jetzt wurde Paul misstrauisch. »Was ist denn mit dir los? Hast du dich verquatscht?«
    »Nein, das habe ich nicht.«
    »Also, dann geh dich umziehen. Wir singen, hat Jähde gesagt. Ich soll Nagold holen.«
    »Muss der zum Jähde?« Zick schöpfte Verdacht.
    »Ja, dicke Luft!« Paule ließ Zick allein.
    Nagold hatte sich erschöpft auf sein Bett gelegt. Am Tag vorher hatte er mit den Jungen das Alumnat umgeräumt, um für Flüchtlinge Platz zu schaffen. Das war über seine Kräfte gegangen. In der Nacht hatte er kaum geschlafen. Ein alter Mann war gestorben. Man wusste weder seinen Namen, noch kannte man seine Angehörigen, man hatte ihn einfach »Opa« genannt. Mit dem Pfarrer zusammen hatte ihn Nagold aus dem Alumnat getragen und auf den Friedhof gekarrt. Dort gab es schon viele namenlose Gräber, nur mit einem eilig zusammengebastelten Holzkreuz versehen.
    Am nächsten Morgen mussten die dreihundert Flüchtlinge wieder in ihre Trecks eingewiesen werden. Das Haus wurde für die Aufnahme neuer Flüchtlinge vorbereitet.
    Jetzt, am Nachmittag, sehnte sich Nagold nach Schlaf.
    »Du hast heute noch nichts gegessen«, sagte Frau Nagold. Sie saß steif auf dem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, blickte sie zu ihm hinüber. Sie wollte, dass er sprach und sie ansah.
    »Nein«, sagte er bewegungslos.
    Frau Nagold rückte näher.
    In Nagolds Stirn grub sich eine Falte. Warum ließ sie ihn nicht in Ruhe! Er spürte ihren Wunsch, bei ihm Trost zu finden. Ihre Aufdringlichkeit stieß ihn ab. Wusste sie immer noch nicht, dass ihm seine Umwelt gleichgültig geworden war und dass er keinerlei Verantwortung mehr spürte?
    Er fühlte ihre kalten Finger auf seinem Handrücken.
    »Ich hab Suppe. Sie wird dir gut tun!«
    Als er weder antwortete noch sie ansah, fuhr sie fort: »Für morgen ist nichts mehr da. Ich habe das letzte Mehl verbraucht.«
    »Dann koch Kartoffeln! Lass mich jetzt um Gottes willen zufrieden.«
    Aber sie rutschte von ihrem Stuhl vor sein Bett, legte ihr Gesicht in seine Hand und flüsterte: »Lass mich nicht allein. Du bist der einzige Mensch, für den ich lebe.«
    Als er ihre kleinen Küsse in der Handfläche fühlte, schloss er seine Finger zur Faust.
    Frau Nagold erhob sich wortlos. Er wusste nicht, ob sie seine Abneigung spürte. Er hörte, wie sie sich am Herd zu schaffen machte, und bald stieg ihm der schale Geruch einer Krautsuppe in die Nase. Er hatte Hunger. Während Nagold schweigend seine Suppe löffelte, kam Paule mit der Nachricht, Nagold solle sich sofort zu Jähde begeben.

Zick stand dicht am Schlüsselloch und wusste nicht, ob er sein Ohr oder sein Auge an die schmale Öffnung halten sollte. Es war nicht viel, was er zu sehen bekam, eine Hand, ein Bein, den Rücken oder Jähdes Gesicht.
    »Wieso haben Sie den Einfall, das Vespersingen einstellen zu lassen?«, war Jähdes erste Frage, ohne dass er Nagolds

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