Stern ohne Himmel
Vorbeigehen.
»Was hat er denn mit dir?«, wollte ein Junge wissen.
»Ach«, Zick winkte ab, »der träumt seit gestern schlecht, und nun will er immer von mir wissen, was er gesagt hat.«
Zick sammelte Abfall zusammen. »Hör mal«, wandte er sich an einen Jungen, als Willi verschwunden war, »wenn man in eine Stadt kommt, in der man sich nicht auskennt, und man sucht jemanden – was macht man da?«
»Einwohnermeldeamt natürlich«, sagte der Junge, »wenn’s nicht schon aufgelöst ist oder die Leute abgehauen sind.«
Zick nickte nachdenklich. »Nicht schlecht!«
Der Regen hatte aufgehört, als Zick zum Rathaus lief. Sicher war keiner auf die Idee gekommen, dort nachzufragen.
In der Halle des Rathauses las Zick den »Wegweiser«. Da stand es: Parterre Einwohnermeldeamt Zimmer III, Ortsgruppenleiter Zimmer IV. Er knöpfte sich den Hemdkragen zu und zog sich die Kniestrümpfe hoch. Dann klopfte er. Niemand antwortete. Zick nahm das Schweigen als Aufforderung, Zimmer III zu betreten.
Ein großer, muffiger Raum. Der größte Teil der Akten war aus den Regalen gerissen und lag in unordentlichen Haufen über dem Fußboden verstreut. Jetzt merkte Zick, dass dem eisernen Ofen in der Ecke ungewöhnliche Hitze entströmte. Wir haben das ganze Jahr keine Kohlen, dachte er verwundert, und die heizen hier im April, als wenn Weihnachten wäre.
Ein Fräulein mit rotem Gesicht wühlte in den Papieren. Sie riss einige Seiten aus einem Ordner, ohne den Halter vorher zu öffnen.
»Ich hab’s!«, rief sie zu der offen stehenden Tür des Nebenzimmers.
»Dann verbrennen Sie es mit den anderen Unterlagen«, kam die Antwort.
Stöhnend erhob sich das Fräulein.
Zick räusperte sich. »Heil Hitler!«
Das Fräulein ließ vor Schreck den Feuerhaken fallen.
Ich möchte bloß wissen, was die macht, dachte Zick und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Ich hätte gern eine Auskunft!«
Das Fräulein kam näher. »Kannst du nicht klopfen?«
Zick sah direkt in ihre Nasenlöcher, die von Staub und Papierasche ganz schwarz waren.
»Hab ich ja!«
»Was willst du?«
»Können Sie mir bitte den Aufenthaltsort von Arthur Dressler sagen?«
Das Fräulein riss ihre Augen auf.
»Wart mal«, sagte sie und ging rückwärts zu der Tür, wo die Stimme hergekommen war.
Darauf erschien der Ortsgruppenleiter.
»Heil Hitler!«, grüßte Zick und schlug die Hacken zusammen.
»Wie heißt du?«, fragte der Ortsgruppenleiter.
Zick fand den Mann sehr freundlich.
»Siegfried Breuner.«
»Wo?«
»Schüler im Alumnat.«
»Weißt du, wer ich bin?«
»Jawohl, Herr Ortsgruppenleiter!« Zick schlug abermals die Hacken zusammen. Man konnte nie wissen.
Der Ortsgruppenleiter betrachtete ihn mit Ausdauer ohne jeden Ausdruck.
»Und du suchst Arthur Dressler?«
Zick nickte.
Die Hitze im Zimmer wurde unerträglich.
»Wer hat dich geschickt?«, brüllte plötzlich der Ortsgruppenleiter.
Mit einem Satz stand Zick an der Tür und flitzte aus der Halle.
»Das haben wir gleich«, sagte der Ortsgruppenleiter.
Er ging zum Telefon und rief Jähde an. Er forderte eine genaue Untersuchung, wieso Schüler des Alumnates nach dem Kommunisten Dressler forschten. Im Übrigen verbäte er sich als Ortsgruppenleiter, von Jähdes Schülern belästigt zu werden. »Oder«, schloss der Ortsgruppenleiter wütend, »glauben Sie vielleicht, ich hätte den Dressler bei mir versteckt, um mir für die Russen ein Alibi zu schaffen? Seien Sie vorsichtig mit mir!« Er knallte den Hörer auf die Gabel.
Ruth hatte bisher noch keinen Versuch unternommen, Dressler ausfindig zu machen. Der Gedanke, nicht zu wissen, wo sich Abiram zurzeit befand, ließ ihr keine Ruhe. Sie irrte planlos umher, kroch in Keller, spähte in Winkel, drängte sich zwischen Flüchtlingen in der Sammelstelle und in den Volksküchen, aber nirgends konnte sie Abiram entdecken. Sie musste Abiram finden. Sie musste ihm klar machen, dass der Großvater der Einzige war, der hier noch helfen konnte. Dabei fiel ihr ein, dass sie Antek nicht nach der Uniformjacke gefragt hatte. Vielleicht lag sie noch im Keller? Aber weder zwischen den ausgeräumten Regalen noch hinter der Zinkbadewanne oder in der Kiste war etwas zu finden. Dabei entdeckte Ruth etwas anderes. Auf der Innenseite der Holzkiste war ein Judenstern eingeritzt. Ruth nahm den Deckel und schleppte ihn ans Tageslicht. Sie suchte sich ein Stück Eisen, mit dem sie auf das Holz einschlug, bis es in Stücke brach.
Nicht weit von Ruth kroch Willi hinter
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