Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
Vom Netzwerk:
zurück. Mit fieberhafter Geschwindigkeit rollte er die Uniformjacke zusammen, das Futter nach außen. Jetzt musste der Mann unter ihm im Tor stehen. Er schien unentschlossen. Abiram kroch zum Wehrgang. Aber er konnte den Mann nicht sehen. Ob er jetzt in einen der Türme hinaufgestiegen war? Abiram wusste nicht, in welchen. Er beugte sich über die Zinnen. Herunterzuspringen war unmöglich.
    Ganz deutlich war jetzt das Tappen auf der Treppe zu hören. Es kam von rechts. Abiram floh gebückt über den Wehrgang zum linken Turm. In der Mitte blieb er stehen. Was war das? Spielte ihm sein Gehör einen Schabernack oder kam der Mann über den linken Turm herauf? Abirams Hände fuhren zum Hals. Er war gefangen.
    »Abiram?«
    Die Stimme kam von links. Abiram musste wieder auf die andere Seite. Aber gab es dort eine Treppe, die hinunterführte?
    »Abiram, bleib stehen! Hab keine Angst!«
    Der Mann tauchte auf. Er war staubig und voller Kalk, denn die Wendeltreppe war eng.
    Abiram duckte sich und riss zwei Gläser mit Kirschen um. Splitternd klirrte das Glas über die Steine.
    »Halt, Junge!«
    Aber Abiram war schon auf der anderen Seite des Tores. Er kroch in den Turm. Seine Hände tasteten die Tür nach unten ab, aber sie fanden keine Klinke.
    Der Mann kam näher.
    Abiram beugte sich aus der Schießscharte, die in nördliche Richtung zeigte. Anderthalb Meter tiefer lag die Stadtmauer. Abiram drückte die Uniformjacke zusammen, presste sie sich unter das Kinn und ließ sich rückwärts aus der Schießscharte gleiten. Einen Augenblick hing er, nur mit den Händen an die Mauer geklammert, in der Luft.
    Er sah den weißhaarigen Kopf des Mannes. Dann ließ er sich fallen.
    Geschickt landeten seine Füße auf der schmalen Mauer. Abiram balancierte auf ihr bis zu den Zweigen einer Kastanie, in der er sich vor den Blicken des Mannes verbergen konnte.
    Nun schlich er an der Stadtmauer entlang, über Zäune und durch Gärten, bis er das Gelände einer kleinen Fabrik erreichte. Ein freier Platz lag vor ihm. An der Fabrikwand waren Rohre gestapelt, auf der anderen Seite standen Tonnen. Sie waren mit weißer Ölfarbe nummeriert. Abiram beunruhigte eine kleine Holzhütte, die in der Mitte des Platzes lag. Sie hatte nach allen vier Seiten Fenster, und es war nicht zu erkennen, ob sich jemand in der Hütte aufhielt oder nicht.
    Links von Abiram lag die Stadtmauer, die er nicht überklettern konnte. Rechts von ihm standen Häuser. Höfe und Gärten waren durch Gatter abgeschlossen. Der Himmel wurde dunkler. Wenn er hier bis zum Abend wartete? Abiram dachte an den Mann, der ihn verfolgte. Er nahm einen Stein und warf ihn über den Platz, bis er kullernd gegen eine Tonne schlug. Nichts rührte sich. Abiram kletterte über den Drahtzaun. Die Fensterscheiben starrten ihn wie riesige Fernrohre an, und er brauchte alle Beherrschung, um nicht plötzlich fortzurennen. Der Kies knirschte. Bis zur Hütte, an der Abiram vorbeimusste, standen in gleichmäßigen Abständen zehn dieser nummerierten Tonnen. Die erste hatte Abiram erreicht. Er duckte sich und wartete, hörte aber nur den eigenen Herzschlag. Dann kam er bis hinter die zweite, die dritte, die vierte Tonne.
    Von hier aus konnte er den Eingang der Hütte übersehen. In der offenen Tür lag ein Schäferhund. Er lag mit der Schnauze auf den Pfoten über der Schwelle. Seine bernsteinfarbenen Augen hatten Abiram längst wahrgenommen. In stummer Wachsamkeit verfolgte der Hund jede Bewegung. In der Hütte saß ein alter Mann und schlief.
    Abiram schlich zur fünften Tonne. Der Hund robbte ein paar Zentimeter vor. Er knurrte nicht und bellte nicht. Als Abiram an der sechsten Tonne war, hob er den Kopf und begann zu hecheln.
    Abiram holte ein Stück Wurst aus der Tasche. Er hielt es in Augenhöhe des Hundes, der den Geruch der Wurst direkt in die Nase bekommen musste. Es war ein magerer Hund.
    Abiram kam zur siebten Tonne. Er wusste, wenn er jetzt umdrehte und dem Hund den Rücken zukehrte, würde dieser ihn anfallen. Abiram hockte sich hin. Er legte die Wurst auf die Fingerspitzen seiner ausgestreckten Hand. Der Hund blieb bewegungslos. Nur die Zunge fuhr einmal über das Maul.
    Er hat Hunger, dachte Abiram und war an der neunten Tonne. Nicht mehr als drei Meter trennten ihn von dem Hund und dem schlafenden Mann. Abiram warf die Wurst herüber. Das Tier zuckte mit den Pfoten. Die Ohren legten sich an, die Nase zitterte. Der Hund stand auf.
    »Nimm!«, flüsterte Abiram.
    Und der Hund bellte. Mit einem

Weitere Kostenlose Bücher