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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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an.
    »Er kommt gleich. Ihm war nicht gut.«
    Antek flüsterte, damit man es unten im Kirchenschiff nicht hörte. Nagold stellte Zick an Paules Platz.

Paule war am Stadttor, keuchte die Wendeltreppe hoch bis zu dem kleinen Turm – er war leer.
    Paule rief, keine Antwort.
    Verlassen lagen die Scherben einiger Kompottgläser auf dem Wehrgang.
    Zick hatte Recht, Abiram war geschnappt.
    Paule stolperte die Treppe wieder hinunter und jagte im gleichen Tempo zur Kirche zurück.
    Schon von weitem hörte er den Chor, dessen Solo er zu singen hatte. Als er vorsichtig die schwere Klinke der Kirchentür herunterdrückte und lautlos die Holzstiegen erklomm, musste er sich am Geländer festhalten. Die Stimmen der Jungen klangen durch das Kirchenschiff:
Der grimmig Tod mit seinem Pfeil
    tut nach dem Leben zielen,
    sein Bogen schießt er ab in Eil
    und lässt nicht mit sich spielen.
    Das Leben schwindt wie Rauch im Wind,
    kein Fleisch kann ihm entrinnen,
    kein Gut noch Schatz findt bei ihm Platz,
    du musst mit ihm von hinnen.
    Noch nie hatte Paule den Sinn der Worte so klar erfasst wie heute. Plötzlich ergriff ihn der Wunsch, sein Solo zu singen. Sein Atem flog und die Stimme überschlug sich. Aber dann hob sie sich, während Paule die Augen schloss, um seine Tränen zu verbergen.
Vielleicht ist heute der letzte Tag,
    den du noch hast zu leben.
    Oh, Mensch, veracht nicht, was ich sag:
    nach Tugend sollst du streben …
    Die Menschen saßen mit gefalteten Händen, ergriffen vom Leid des eigenen Schicksals.
    »Vielleicht ist heut der letzte Tag …« Für Nagold gab es kein Vielleicht. Für ihn war es der letzte Tag. Ein Abschied von der Musik, seiner Kirche und seinen Schülern. Was nun kam, war ein Hintreiben ohne Ziel, ohne Glauben.

Abiram hatte frierend, aber glücklich im zugigen Turm des Stadttors gelegen, so, wie Paule, Antek und Zick ihn verlassen hatten. Nachdem die Freunde in der Dunkelheit verschwunden waren, hatte er sich eine Stellung ausgesucht, von der er sowohl die Stadt als auch die Ruinenfelder durch die Schießscharte übersehen konnte. Es war ein hartes Lager und nur sein Kopf war weich auf der Uniformjacke gepolstert. Wenn er durch die westliche Schießscharte blickte, sah er im Mondlicht nichts als Trümmer, zerbrochene Kamine und verrostetes Eisengeflecht. Seine Augen kreisten müde über die Ruine der Schillerstraße. Ein Licht funkelte auf, verschwand wieder. Abiram wusste, sie suchten nach ihm. Jeden Winkel leuchteten sie ab, jeden Steinhaufen krochen sie hinauf, kein Kellerloch war ihnen zu tief, um ihn zu finden.
    Die östliche Schießscharte gab ihm den Blick zur Stadt frei. Der Turm der Kirche ragte in den nachtblauen Himmel. Abiram dachte darüber nach, was die Menschen wohl in dieser Kirche, die ihm fremd war, beteten.
    Plötzlich flammte der Himmel in breiten rotbläulichen Blitzen auf. Das Licht, das nach ihm suchte, verschwand. Und während die Bewohner der Stadt ängstlich in ihren Häusern saßen und die Sekunden zwischen Blitz und Artilleriedonner zählten, fand Abiram wieder Hoffnung und Ruhe. Er streckte sich aus und unter den pausenlosen Explosionen fand er Schlaf.
    Am Tag war es für Abiram nicht leicht, unbemerkt im Stadttor zu bleiben. Jede geringste Bewegung hieß Gefahr, dass man ihn sehen konnte. Auf dem Wehrgang durfte er sich nur liegend oder kriechend aufhalten, und im Turm konnte er nur sitzen, wenn er die Beine ganz anzog. So lag er meist im Wehrgang auf dem Rücken. Dafür aß er unentwegt. Er konnte sich nicht besinnen, jemals in seinem Leben eine so reichhaltige Auswahl gehabt zu haben. Er brauchte sich nicht einmal zu bewegen. Er griff nach links, nach rechts oder nach oben, wo die Würste hingen, blieb geduldig und war glücklich.
    Es begann zu regnen. Abiram kroch in das Türmchen zurück. Ob einer der Jungen Dressler gefunden hatte? Vielleicht wohnte der Mann gar nicht mehr hier! Plötzlich hörte er Schritte und ganz dicht ein Rufen. Er schob sein Gesicht zur Schießscharte – er sah Willi auf dem Pfad zwischen den Trümmern. Komisch, er hatte geglaubt, dass die Schritte viel näher gewesen wären. Abiram rutschte wieder zurück. Alle Geduld, alles Glück über die neu gewonnenen Freunde war verflogen. Übrig blieben Misstrauen und Wachsamkeit.
    Abiram wusste nicht, wie lange er so in seiner Ecke gekauert hatte. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Aber dann sah er einen Mann mit weißen Haaren zielsicher auf das Stadttor zukommen. Abiram zog sich noch weiter

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