Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
sich unendlich erleichtert. So erleichtert, dass er Rick Woolf herzlich die Hand reichte und mit guten Wünschen überschüttete. Dann hielt schon die Droschke, der Kutscher lud Carpenters Gepäck ab und fuhr weiter, während Carpenter noch lange auf dem schneebedeckten Bürgersteig stand, der Kutsche nachsah und wusste, dass er Rick Woolf nie wiedersehen würde.
Achtundzwanzigstes Kapitel
T itine lebte nun schon so viele Jahre auf der Karibikinsel, doch wenn Weihnachten vor der Tür stand, geschahen mit ihr zwei Dinge. Zum einen packte sie das Heimweh. Sie erinnerte sich wehmütig an die Weihnachten zu Hause, als ihre Eltern noch lebten. Sie konnte sich sogar noch den Duft des Weihnachtsbaumes, der Plätzchen und der gebratenen Gans in Erinnerung rufen. Sie hörte das stille Fallen des Schnees, sah das Glitzern der Eiskristalle im Mondlicht, hörte die Schellen der Schlitten klingeln.
Und zum anderen wunderte sie sich seit Jahren darüber, wie auf Kuba Weihnachten gefeiert wurde. Europäisch irgendwie und doch ganz anders. Manche Leute schmückten Palmenwedel mit Orangen und glitzerndem Papier, einige hängten sogar Strohsterne an die Bäume. Strohsterne, die, wie Titine dachte, eigentlich Schneeflocken nachempfunden sind. Schneeflocken. So etwas hatten die Einheimischen noch nie gesehen. Welche Bedeutung könnten also für sie Strohsterne haben? Einige steckten sogar Kerzen an die Palmen, und obwohl Titine auch das karibische Weihnachten schätzte, bei dem es an manchen Orten Brauch war, vor der Messe im Meer zu baden, so hatte dieses Fest doch nichts, rein gar nichts mit den erhebenden Gefühlen zu tun, die sie in Deutschland immer ergriffen hatten. Auch die Weihnachtslieder fehlten ihr. Es gab zwar einige, die ins Spanische übersetzt worden waren, aber Leise rieselt der Schnee klang in der Karibik einfach nicht so, wie es zu Hause klang. Heute nun war Weihnachten. Sie war aufgeregt. Aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Mafalda und sie hatten beschlossen, am Nachmittag zu Hermann zu gehen. Sie hatten sogar ein paar kleine Geschenke für ihn gekauft. Doch Titines Herz klopfte. Sie hatte ein wenig Furcht vor dieser Begegnung, denn sie wusste, auch wenn sie ihm alles verziehen hatte, so würde ihr Verhältnis niemals wieder das alte werden. Und Fela fehlte. Oh, wie sehr ihr Fela fehlte! Er war Aurelios Vater, er musste doch sehen, wie sich der Kleine über eine neue Trommel freute. Wenn Titine daran dachte, musste sie mit den Tränen kämpfen.
Mafalda betrat das Zimmer, und Titine wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. »Und, bist du fertig?«, fragte Titine die Schwägerin.
Mafalda zog ein betrübtes Gesicht. »Meinst du wirklich, wir sollten heute zu ihm gehen? Ich habe ihm Hörner aufgesetzt. Es kann nicht sein, dass er mir das verziehen hat. Zumal er die Umstände nicht kennt.«
Titine setzte sich auf die Bettkante, zog Mafalda neben sich. »Ich verstehe dich«, sagte sie. »Aber wir zögern die Begegnung schon eine ganze Weile hinaus. Meinst du nicht, dass das Weihnachtsfest, das Fest des Friedens und der Liebe, ein geeigneter Zeitpunkt wäre?«
Mafalda sah auf ihren Schoß und knüllte ein Taschentuch in ihren Händen. »Was ist, wenn er nicht da ist? Wenn er in der Kirche ist? Oder eingeladen?«
Titine griff nach Mafaldas eisiger Hand. »Wir wissen, wann Hermann in die Kirche geht. Er tut es immer um Mitternacht, zur Mitternachtsmesse. Diese Gewohnheit wird er nicht abgelegt haben. Und wer sollte ihn einladen? Du hast selbst gesagt, dass ihr in den letzten Jahren kaum Kontakt mit anderen hattet.«
Mafalda saß weiter starr da und wirkte so hilflos wie ein Kind.
Plötzlich sprang Titine auf: »Denkst du, mir fällt das alles leicht?«, fragte sie sanft. »Aber wir müssen es tun. Meinst du, es würde dir besser zumute sein, wenn ich oder wenn wir gemeinsam heute Morgen zu Joachim Groth gehen würden? Wenn überhaupt jemand eine Ahnung hat, wo Hermann heute Abend sein könnte, dann am ehesten er. Außerdem wird er vielleicht wissen, wie es Hermann in den letzten Tagen ergangen ist. Immerhin bist du nun schon seit einer Woche nicht mehr zu Hause gewesen.«
Mafalda hob den Blick. Ein leiser Hoffnungsschimmer glomm in ihren Augen. »O ja, das ist eine gute Idee. Lass uns gleich zu Don Joachim gehen. Zwar hat er mich in der letzten Zeit nicht gerade wie eine Freundin behandelt, aber die ganzen Jahre zuvor war er uns sehr nahe. Wir könnten ein Geschenk für ihn vorbeibringen. Was meinst
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