Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
zur Welt gebracht, und … und …« Sie brach ab, rang die Hände, sandte flehende Blicke zum Himmel.
»Was und?« Titine spannte den Körper an, als hätte sie schon jetzt Angst vor dem, was sie gleich hören würde.
»Wir sagten dir, dass deine Tochter tot wäre, gestorben bei der Geburt. Hermann und ich dachten, dass es das Beste für dich und das Kind wäre.« Wieder brach sie ab, rang stumm nach Worten.
»Und?« Titines Ton klang angestrengt und ein wenig ängstlich.
Mafalda griff vorsichtig nach Titines Hand, aber Titine entzog sie ihr. »Und?«, fragte sie erneut.
»Das Mädchen ist nicht gestorben«, flüsterte Mafalda und wagte es dabei nicht, ihrer Schwägerin in die Augen zu sehen. »Ich habe sie zu guten Leuten gebracht, die sie aufgezogen haben. Sie hatte alles, was sie zum Leben brauchte. Ja, sogar eine gute Schulbildung haben wir ihr ermöglicht.«
Vorsichtig blickte sie Titine an. Was hatte sie erwartet? Dass Titine aufsprang, sich die Haare raufte, auf die Brüste schlug und in lautes Wehklagen ausbrach? Dass sie der Schwägerin ins Gesicht schlug und sie aus dem Haus warf? Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass das, was jetzt geschah, schlimmer war als alles, was sie sich vorgestellt hatte. Titine saß neben ihr, starr und stumm wie ein Fisch, und ließ große Tränen in ihren Schoß tropfen.
»Verzeih mir, bitte, wenn du kannst«, flüsterte Mafalda. »Wir wollten dir und dem Kind nichts Böses. Wir wollten nur, dass alles so bleibt, wie es damals war. Ich weiß, dass wir schwere Schuld auf uns geladen haben. Ich weiß, dass wir das niemals wiedergutmachen können …«
Behutsam kroch Titines Hand hinüber, griff nach Mafaldas Hand und drückte sie fest. Dann brach Titine in offenes, herzhaftes Weinen aus und flüsterte dabei ununterbrochen: »Ich habe es gewusst. Ich wusste immer, dass sie nicht tot ist. O mein Gott, oh, alle Götter, ich danke euch so sehr.«
Dann drehte sie ihren Oberkörper Mafalda zu und sagte mit gepresster Stimme: »Erzähl mir von ihr. Alles. Lass nichts aus.«
»Sie heißt Rafaela«, begann Mafalda. »Und sie ist wunderschön, klug und von einem so freundlichen Wesen, dass sich jeder in ihrer Gegenwart wohl fühlt. Sie lebt bei uns, also bei Hermann, ist seit dem Schlaganfall seine Gesellschafterin. Sie allein vermag es, Hermann ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.«
»Weiß sie, wer sie ist?« Titines Stimme klang kläglich dünn.
Mafalda schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben ihr nichts gesagt. Wir wollten den richtigen Zeitpunkt abwarten. Sie liebt die Leute, die sie aufgezogen haben. Wir wollten nicht noch mehr zerstören.«
»Rafaela«, flüsterte Titine und lächelte schmerzlich. »Rafaela. Wer hat sie so genannt?«
Mafalda schluckte. »Ich war das. Ich habe sie auf den Namen Rafaela taufen lassen, weil du mir einmal sagtest, dass du dein Ungeborenes so nennen wolltest, wenn es ein Mädchen würde.«
Titine nickte, regte sich kaum und wurde doch von den Empfindungen des Augenblicks regelrecht durchgeschüttelt. »Lass mich allein«, bat sie schließlich. »Ich brauche jetzt ein wenig Zeit für mich.«
Mafalda erhob sich. Es zerriss ihr das Herz, wenn sie Titines Qual sah. Oh, was hatte sie ihr nur angetan! Was für ein herzloser Mensch war sie gewesen, obgleich sie es doch nur gut gemeint hatte. Oh, wenn sie es doch rückgängig machen könnte! Sie würde einen Arm oder ein Bein dafür geben.
Sie räusperte sich, doch Titine sah nicht auf. »Geh jetzt!«, wiederholte sie nur.
»Einen Satz noch: Hermann weiß nicht, dass Rafaela seine Nichte ist. Aber auch ohne dieses Wissen liebt er sie, wie ein Onkel seine Nichte lieben sollte.« Mit diesen Worten ging sie.
»Nun, wie steht es?« Joachim Groth hatte gerade die Rummanufaktur betreten und sah sich erstaunt um. »Meine Güte, du musst geschuftet haben wie ein Ochse. Die Handwerker sind vollkommen erschöpft.«
Hermann lachte. »Und das tut mir nicht einmal leid. Schau nur, wie es hier aussieht. Ist es nicht wunderschön? Die schönste Bar, die du je gesehen hast?«
Groth sah sich um. Zwei Wände waren eingerissen, der Putz angemischt, aber noch nicht aufgetragen, der Boden an manchen Stellen aufgebrochen. Es sah aus wie nach einem Hurrikan, von Schönheit keine Spur. Aber Hermann, das erkannte Joachim Groth, sah mit den Augen der Phantasie.
Groth nickte. »Da hast du recht, und ich hätte auch niemals gedacht, dass du so schnell vorankommen würdest. Morgen ist Weihnachten. Bis zur
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