Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
musste sie Papier und Bleistift aus ihrer Manteltasche ziehen und die Zeichen abmalen, damit sie am Nachmittag Frau Semmeling nach deren Bedeutung fragen konnte.
Der Herbst kam und tauchte die Blätter der Bäume in Gold und Kupfer, entzündete Leuchtfeuer von Orangerot, Zinnober und Scharlach, sodass Emily aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Ihre Freude an diesem Zauber des Nordens endete jedoch bald, als die Farben erloschen und das Laub braun wurde und welk, zu Boden segelte in Sturm und Regen und dort matschige Haufen bildete. Als stürbe die Natur um sie herum einen langsamen Tod.
Die einzigen Jahreszeiten, die es auf Sansibar gab, waren Regen und Hitze. Die Insel war immergrün, und Tag und Nacht waren beständig gleich lang.
Nicht so in Hamburg, wo die Tage merklich kürzer wurden, die Dunkelheit früher einsetzte und später wich. Mit jedem Tag entblätterten Bäume und Sträucher sich weiter, bis sie nur mehr als kahle Gerippe herumstanden. Wie knochige Klauen, vom Nebel zu gruseligen Schemen verwaschen und sich in einen düsteren Himmel krallend, der bleiern über der Stadt hing.
Totenfinger , ging es Emily oft schaudernd durch den Sinn. Wie die ausgezehrten Finger von Menschen, die der Cholera erlegen sind, Finger, im Todeskampf erstarrt.
Der späte Herbst und der beginnende, noch nackte Winter des Nordens war eine Zeit, die an Vergänglichkeit und an den Tod gemahnte. Grau und lichtlos, bar jeder Hoffnung, dassSonne und Farbe je zurückkehren würden. Selbst dick eingepackt und am flackernden Kamin, am bullernden Kohleofen bibberte Emily vor Kälte, und doch riss sie immer wieder die Fenster auf, um genügend Luft zu bekommen, sodass es in der Nachbarschaft bald amüsiert hieß, Frau Ruete heize halb Uhlenhorst mit.
Es war an einem Nachmittag im Dezember, als Emily in eine Wolldecke gehüllt am offenen Fenster stand und tief einatmete, obwohl die kalte Luft ihr in den Lungen brannte und sie husten machte. Wie so oft in den letzten Wochen. Sie dachte schon, ihr sei schwindelig, weil sie helle Pünktchen vor den Augen tanzen sah, doch dann bemerkte sie, dass diese vom Himmel herabkamen. Zarte weiße Flöckchen wie Wattefetzchen oder wie Schaumbläschen, die durch die Luft taumelten und zu Boden sanken, wo sie dann spurlos verschwanden. So vertieft war sie in dieses Schauspiel, dass sie nicht einmal hörte, wie Heinrich nach Hause kam. Erst als sich die Tür hinter ihr öffnete, wandte sie den Kopf.
»Ah, wieder sansibarisch-hamburgisches Wetter heute im Hause Ruete«, lachte er, als er die Tür hinter sich schloss und zu ihr ging. »Am Ofen heiß, am offenen Fenster eisig.« Er küsste sie auf die Wange.
»Was ist das da draußen?« Ihre Stimme war heiser vor Aufregung.
»Das ist Schnee, Bibi. Es schneit.«
»Schnee?«
»Wenn es im Winter kalt ist«, erklärte er, »wird der Regen noch in den Wolken zu Kristallen und kommt als Schneeflocken herab.« Prüfend blickte er zum sich verdunkelnden Himmel. »Über Nacht bleibt er bestimmt liegen. Dann ist morgen früh alles weiß. – Komm ins Warme, Bibi, nicht dass du dich erkältest.«Am anderen Morgen wachte Emily vor der Zeit auf. Es war ungewöhnlich hell im Schlafzimmer, anders als an den finsteren Morgen zuvor. Ein helles bläuliches Licht. Und es war still, so still. Stiller als sonst, als wäre die ganze Welt in Watte gepackt, die jegliches Geräusch verschluckte. Neugierig schlug Emily die dichte Daunendecke zurück und stieg mit ihrem gewölbten Leib schwerfällig aus dem Bett, zog sich ihren Morgenmantel über und tapste in den zwei Paar übereinandergezogenen Strümpfen, die sie des Nachts der Kälte wegen trug, zum Fenster.
»Ooohh«, hauchte sie, als sie die Vorhänge beiseitezog. Draußen war wahrhaftig alles weiß, wie Heinrich vorausgesagt hatte. Ein dicker weicher Teppich bedeckte den Boden, und die kahlen Bäume und Sträucher hatten weiße Hauben übergezogen. Unablässig fielen neue Flocken vom Himmel, als schüttelte jemand oben am Himmel einen Sack Flaumfedern aus.
Emily kleidete sich an, so schnell es ihr mit ihren klammen Fingern möglich war.
»Bibi?« Schlaftrunken hatte sich Heinrich im Bett aufgesetzt. »Was machst du?«
» Schnee , Heinrich«, rief sie begeistert das neu gelernte deutsche Wort aus. » Schnee! Ganz viel! Ich muss hinaus und ihn mir ansehen!«
Stöhnend warf sich Heinrich wieder in die Kissen, bevor er sich einen Ruck gab, ebenfalls aufstand und sich ähnlich hastig anzog wie seine Frau, die gerade
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