Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
und Pfannen, bis das ganze Haus roch wie eine Garküche in Bombay. Einindisches Curry aus Gemüse und Obst, höllisch scharf, und pilaw aus Reis, Zwiebeln und Huhn kochte Emily sich immer dann, wenn sie schlechte Laune hatte – weil diese von den Indern nach Sansibar gebrachten Rezepte tröstlich nach ihrer Heimat schmeckten und ihre Seele mindestens ebenso nährten wie den Leib. Und weil es die einzigen Gerichte waren, die sich mit den in Hamburg erhältlichen Zutaten auch nur annähernd nachkochen ließen.
Wortlos rauschte sie ins Speisezimmer, in dem Heinrich bereits über seinem aufgeschlagenen Abendblatt am Tisch saß, da er nie wagte, Emily in der Küche zu stören, wenn sie sich in einer Curry-und- pilaw -Laune befand. Aufmerksam sah er zu, wie sie erst heftig den Topf mit dem pilaw absetzte, dann auf dem Absatz kehrtmachte, um das Curry zu holen, das sie ebenfalls unsanft auf dem Tisch platzierte. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, stemmte eine Hand in die Hüfte und blies sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Heinrich«, verkündete sie bestimmt, »ich will Deutsch lernen!«
43
»Das ist eine Uhr, Frau Ruete. Eine Uhr. Uhhhrrrrr .«
»Uhhhh« , ahmte Emily die Laute nach, die ihr klobig im Mund lagen.
»Uhhh-rrrr« , wiederholte Frau Semmeling mit Nachdruck.
»Uhhh-rrr« , sprach ihre Schülerin nach und tippte mit dem Finger auf die Glasglocke, unter der der Zeitmesser vor sich hin tickte, und machte ein fragendes Gesicht.
»Das ist Glas, Frau Ruete. Glas wie die Scheiben der Fenster. Verstehen Sie?« Die ausgebildete Deutschlehrerin ging zum Fenstersims, schob die Gardine beiseite und klopfte mit dem Fingerknöchel an die Scheibe. »Glas. Glaaassss .«
Helene Semmeling verfügte über eine wahre Engelsgeduld. Nie wurde sie müde, mit Emily durchs Haus zu wandern, vom Souterrain über die Küche und die gute Stube bis hinauf zum Dachboden, um jedes Ding zu benennen, auf das Emily deutete.
Emily nickte strahlend. Ja, das hatte sie verstanden. »Glaaassss« , kam es ihr spielend über die Lippen, mit einem vollkommenen Zischeln am Ende, wie das Fauchen einer Kobra.
Auch ihre Lehrerin, die durch ihre hagere Gestalt, den strammen, grau gesträhnten Haarknoten und das lange Gesicht, in dem vierzig Lebensjahre deutliche Spuren hinterlassenhatten, strenger aussah, als sie tatsächlich war, schien zufrieden. »Sehr schön, Frau Ruete. Nun schreiben Sie.«
Auf eine Geste von Frau Semmeling hin setzte sich Emily an den Tisch, tauchte die Feder in das Tintenfässchen und setzte die Spitze in der rechten oberen Ecke des Blattes an.
»Halt, Frau Ruete!«
Emily sah erschrocken auf, dann begriff sie und führte die Feder seufzend auf die andere Seite, bevor sie begann, die Laute, die sie soeben gelernt hatte, in Buchstaben zu fassen. Wobei sie sich bemühte, nicht zu der Fibel hinzuschielen, die vor ihr auf dem Tisch lag und ihr das Alphabet zeigte. Dass man in Europa von links nach rechts schrieb statt wie im Arabischen von rechts nach links, war nur eine der Schwierigkeiten, mit denen Emily in ihrem Unterricht zu kämpfen hatte. An manchen Tagen fühlte ihr Gehirn sich an, als sei darin das Oberste zuunterst gekehrt.
»Glas ist ein Gegenstand, ein Ding, Frau Ruete. Etwas, das man anfassen kann.«
Emily starrte ratlos auf die Buchstaben vor sich. Von Frau Semmelings Satz hatte sie nur die Hälfte verstanden, doch dass sie einen Fehler gemacht haben musste, hatte sie klar herausgehört. Schließlich erhellte sich ihre Miene; sie strich glas durch und schrieb Glas darunter. Wenn sie auch nicht wirklich einsah, wozu manche Wörter Großbuchstaben am Anfang benötigten – man hätte doch auch so gewusst, was sie bezeichneten! Die Buchstaben erschienen ihr sperrig und feindselig mit ihren Ecken und Kanten, in ihrer Abgeschlossenheit, und als es später an die Grammatik ging, war Emily manches Mal den Tränen nah, weil sie an den unzähligen Regeln und den zahllosen Ausnahmen verzweifelte.
Jeden Tag, außer sonntags, betrat Helene Semmeling Punkt ein Uhr die gute Stube der Ruetes und brachte Emily in den folgenden zwei Stunden die deutsche Sprache bei. Aufihren vormittäglichen Spaziergängen durch die Stadt begegnete Emily dann auf Schritt und Tritt dem deutschen Alphabet. Oft blieb sie vor einem Schild oder vor einem Plakat stehen und buchstabierte sich murmelnd durch die Aufschriften hindurch. Manches erkannte sie wieder, anderes konnte sie sich zusammenreimen, aber hin und wieder
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