Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
über gefrorenes Wasser zu gleiten. Und der Duft, den die hölzernen Buden verströmten, die am Rand der Eisfläche aufgebaut waren und an denen es neben heißem Kakao vor allem Glühwein zu kaufen gab, verursachte ihr mit seinen würzigen Noten von Zimt, Sternanis und Gewürznelken Heimweh, während die stechende Süße vergorenen Obstes, die dem erhitzten Rebensaft entströmte, ihr Übelkeit erregte.
Je weiter der Monat voranschritt, umso hektischer wurde das Leben in Hamburg. Die sorgsame Ordnung, in der sich die Bürger sonst durch ihre Stadt zu bewegen pflegten, geriet aus den Fugen. Getrieben erschienen sie, reizbar und unruhig wie Jagdhunde, die Fährte aufgenommen hatten, und das Lächeln auf ihren Gesichtern wich übellauniger – oder wie man in Hamburg sagte: muckscher – Verkniffenheit. Umso verwunderlicher für Emily, als sich die Straßen, die Fenster und Türen, die Auslagen der Geschäfte mit jedem Tag mehr in ein festliches Gewand kleideten, mit Tannenzweigen und zu Schleifen gebundenen Seidenbändern, mit Ketten aus buntem Papier, mit Strohsternen, goldenen Walnüssen und Engelsfiguren in weißen Kleidchen. Der trübe Winter des Nordens erhielt Glanz, einen festlichen Anstrich, und doch schienjedermann blind dafür, ganz darauf erpicht, Besorgungen zu machen und verschnürte Pakete aus den Läden nach Hause zu schleppen. Auch Heinrich nahm sich einen Nachmittag frei, um mit seiner Frau durch die Alsterarkaden zu bummeln, in denen großes Gedränge herrschte, als gäbe es Handschuhe, Hüte, Schmuck und Porzellan derzeit zu Schleuderpreisen oder gar umsonst.
»Das wäre doch etwas für Anna, meinst du nicht auch?« Fragend sah Heinrich sie an und hielt ihr einen Schal hin, der ein Muster aus Schnörkeln und Ranken in Veilchenblau und Blassgrau zeigte.
Unschlüssig zog Emily eine Schulter hoch. Sie besaß keine Vorstellung davon, was Johanna Ruete, Heinrichs Stiefmutter, gefallen mochte. Obwohl das junge Paar jeden Sonntag mit Heinrichs Familie zusammenkam – abwechselnd in deren Haus und in ihrem eigenen, zum Mittagessen und zum Kaffee –, war auch nach einem guten halben Jahr für Emily noch kein Gefühl der Nähe oder gar Vertrautheit entstanden. Familie – für Emily war das etwas anderes. Jede Begegnung war wie die allererste: eine Mischung aus neugieriger Faszination für die Exotin und steifer Befangenheit gegenüber der Prinzessin aus einem fremden Land, nur unzureichend verborgen hinter dem Versuch, einen Anschein familiärer Normalität herzustellen. Emily konnte es ihnen nicht verdenken. Zweifellos hatten sie bereits allerhand Abenteuerliches und Wundersames über diese Frau vernommen, die Heinrich in der Fremde unter ebenso märchenhaften wie skandalösen Umständen geheiratet hatte und die er ihnen als fait accompli präsentierte, kaum dass die Koffer der frischgebackenen Eheleute ausgepackt waren. Heinrichs Halbbrüder, der neunzehnjährige Johann und der zwei Jahre jüngere Andreas, fanden sich als Erste in diese für hanseatische Verhältnisse bestürzend ungewöhnliche Situation. Mit einer Anpassungsfähigkeit, wie nur ganz jungeMenschen sie besitzen, legten sie rasch ihr stummes, großäugiges Staunen ab und gingen zu einer leichtherzigen Gleichgültigkeit über, die sie gewiss auch dann gezeigt hätten, wäre ihre neue Schwägerin eine waschechte Hamburger Deern gewesen.
Am meisten verunsichert fühlte Emily sich von ihrem Schwiegervater. Dr. phil. Hermann Ruete, der Schulmeister, war kein Mann vieler Worte und noch weniger ein Mann gefühlsbetonter Äußerungen und Taten, und er begegnete auch seinen Söhnen eher mit distanzierter Höflichkeit denn mit väterlicher Zuneigung.
Allein die blauen Augen Johannas, die sie manchmal mit einem Ausdruck zaghafter Zärtlichkeit auf sich ruhen spürte, waren ein Hoffnungsschimmer für sie, dass mit der Zeit engere Bande zu Heinrichs Verwandten entstehen könnten. Und es war der Gedanke an ebendiese Augen, der sie nun sagen ließ: »Der Schal ist hübsch und passt zur Farbe ihrer Augen. – Hat sie denn Geburtstag?«, setzte sie arglos hinzu.
»Nein, Bibi, aber bald ist doch Weihnachten.«
Weihnachten – das Fest, mit dem die Christen der Geburt Jesu gedachten. Emily hatte Bilder davon gesehen, vom Neugeborenen in einer Krippe, umgeben von Maria und Josef, einem Ochsen und einem Esel, bewacht von Engeln und besucht von drei Orientalen. Heinrich musste ihr angesehen haben, dass sie sich vergeblich bemühte, das Christfest und einen
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